Drogenschmuggel aus Syrien: Assads Sucht-Potenzial
Syrien flutet die Region mit Captagon und immer häufiger auch mit Waffen. Das Transitland Jordanien versucht, dem Schmuggel etwas entgegenzusetzen.
A m 18. Januar, früh am Morgen, erscheinen in der Dunkelheit Militärflugzeuge am Himmel über dem Dorf Orman, im ländlichen, südlichen Syrien. Sie feuern auf drei Häuser. Zurück bleiben Krater im Boden, Häuser in Trümmern und tote Familien, unter ihnen zwei kleine Mädchen.
Es ist der bisherige Höhepunkt eines „unausgesprochenen Krieges“, der sich seit Monaten, vielleicht Jahren, an der Grenze Jordaniens zu Syrien abspielt. Dabei geht es um illegalen Handel: mit Drogen, aber auch Waffen. Kein Land hat sich zum Luftschlag bekannt. Doch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, das den Vorfall untersucht und rekonstruiert hat, zeigen auf die jordanische Armee. Jordanien wiederum hat den Angriff weder bestätigt noch dementiert.
In den vergangenen Monaten hat sich die Lage an der jordanisch-syrischen Grenze zugespitzt. Im Dezember hat die Armee einen der größten Drogen- und Waffenschmuggelversuche aus Syrien vereitelt. Mit Raketen, Panzerfäusten und Sturmgewehren bewaffnete Gruppen von Männern hatten versucht, am frühen Morgen die Grenze in der östlichen Wüste zu überqueren. Als Militärpatrouillen sie entdeckten, sollen sie das Feuer eröffnet haben. 14 Stunden lang haben sich die Gefechte hingezogen.
Als sich die Männer zurückziehen, fliegt die Armee offenbar Kampfflugzeuge über die syrische Grenze, zerbombt Häuser von mutmaßlichen Schmugglern bei Suweida und Dara'a. Das legen Medienberichte nahe.
Jetzt gilt: Shoot to kill
Seit vergangenem Jahr scheint Jordanien mehrere Luftangriffe in Syrien durchgeführt zu haben, hat sich jedoch selten offiziell dazu geäußert. Dabei dürften auch Unbeteiligte gestorben sein. Human Rights Watch konstatiert: „Die Luftschläge, die Frauen und Kinder getötet haben, scheinen außergerichtlichen Hinrichtungen gleichzukommen.“
Die Auseinandersetzungen an der 375 Kilometer langen syrisch-jordanischen Grenze haben an Intensität gewonnen. Bereits 2022 hatte das jordanische Militär seine Einsatzregeln geändert, nachdem einer ihrer Soldaten getötet worden war. Seitdem gilt Shoot-to-kill: Jetzt schießen die Soldaten, um zu töten.
Mitte Februar wurden fünf mutmaßliche Schmuggler umgebracht. Meistens kommen Drogen wie Captagon über die Grenze: 2023 hat das Militär 19 Millionen Pillen konfisziert, 2021 waren es 15,5 Millionen. Bei der Schlacht im Dezember waren es 4,9 Millionen, schreibt die Nachrichtenagentur Petra.
Captagon ist eine synthetische Droge, ein Amphetamin. Es macht wach, munter, mutiger. Das Kokain des armen Mannes: So nennt man es hier, auf den Straßen. Früher bei Dschihadisten beliebt, heute bei Lkw-Fahrern, ausgelaugten Fabrikarbeitern und Partygängern. Über die ganze arabische Halbinsel hinweg wird es konsumiert. Die Kämpfer der islamistischen Hamas sollen es vor ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober geschluckt haben.
Mitglieder des Regimes stecken mit drin
Das schreiben Medienberichte und berufen sich dabei auf US- und israelische Militärquellen, wenngleich manche Expert*innen skeptisch sind: „Es gab keine offizielle Stellungnahme, kein Bild oder toxikologischen Test, die den ursprünglichen Bericht untermauert haben“, sagt etwa Caroline Rose vom US-Thinktank New Lines Institute.
Als ziemlich erwiesen gilt hingegen der Ursprung der Pillenflut, die gerade Nahost überschwemmt. Zusammen mit dem Libanon zählt vor allem Syrien zu den größten Produzenten weltweit. „Eine Vielzahl von Akteuren, staatlich sowie nichtstaatlich“ profitierten von diesem Schmuggel, erklärt Rose. Großfamilien in Libanon und Syrien, doch auch Mitglieder des syrischen autoritären Regimes.
Ein Name taucht immer wieder in Captagon-Berichten auf: Maher al-Assad, Bruder des Präsidenten Baschar al-Assad. Maher leitet die Elitemilitäreinheit Fourth Armoured Division, seit 2011 hat die EU Sanktionen gegen ihn verhängt für die brutale Unterdrückung der Proteste. Mehrere Untersuchungen, von Medien wie der britischen BBC, aber auch des US-Finanzministeriums, weisen auf eine prominente Rolle der Fourth Division beim Schmuggel hin.
Assads Familie und die syrische Regierung haben eine Verstrickung in den Drogenhandel jedoch stets bestritten. Doch manche Gebiete in den Regionen unter Kontrolle des Regimes seien regelrechte „Hubs“ für die industrielle Captagon-Produktion, so Rose.
Human Rights Watch über Einsätze des jordanischen Militärs
Billige Tabletten mit zwei Halbmonden
2018 haben griechische Küstenwächter ein Schiff auf dem Weg vom syrischen Hafen von Latakia nach Libyen angehalten, an Bord fanden sie drei Millionen Captagon-Pillen und sechs Tonnen Cannabis. Wert: 100 Millionen Euro. Eigentümer des Schiffes war Taher al-Kajali, syrischer Geschäftsmann unter US-Sanktionen für seine Unterstützung des Regimes. Al-Kajali hat laut Medienberichten jede Verwicklung verneint und wurde damals nicht verurteilt.
Captagon ist ein lukratives Geschäft. 57 Milliarden US-Dollar soll der weltweite Handel laut der britischen Regierung wert sein. Andere Expert*innen sind zurückhaltender, schätzen ihn auf etwa zehn Milliarden. Die Pillen werden in Kellern und Lagern mit relativ günstigen Maschinen für etwa 50 US-Cent pro Stück produziert, für den Endkunden kosten sie zwischen 1 und 25 US-Dollar pro Pille, je nach Qualität und Herkunftsland.
Und Syrien, nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg, Sanktionen und einer zerrütteten Infrastruktur, hat einen hohen Geldbedarf. Die Iran-nahe Hisbollah und weitere Milizen unterstützen laut Expert*innen ebenfalls den Handel als Einkommensquelle. Sowohl der Iran als auch die Hisbollah haben eine Verwicklung stets verneint.
Zunehmend finden die kleinen runden Pillen mit zwei Halbmonden ihren Weg nach Europa. Ende Oktober haben Beamte 300 Kilo in einer Garage nahe Aachen beschlagnahmt, der bislang größte Fund auf deutschem Boden. Das sorgte für Unruhe.
Pillen in der Dattelpaste
Denn Captagon macht nicht nur wach, sondern auch abhängig. Langfristiger Missbrauch kann Herz- und Blutdruckprobleme sowie Halluzinationen verursachen. Bislang gilt Europa lediglich als Transitgebiet auf dem Weg nach Saudi-Arabien und in die Golfregion. Die europäische Route ist allerdings nur eine von mehreren.
Said Ejadat, Zentrum für Strategische Studien, Jordanische Universität Amman
Seit Jahren überqueren Schmuggler aus Syrien die jordanische Grenze zu den arabischen Golfstaaten. Manchmal sind es Menschen, die Lastkraftwagen steuern, die Karosserie mit Pillen gefüllt, auf der Ladefläche mit Tabletten gestopfte Holztische, Baumaterialien und Bettgestelle oder mit Pillen versetzte Dattelpaste.
Manchmal sind es kleine Drohnen, die Drogenhändler über die Grenze fliegen. Und manchmal sind es Gruppen von Menschen, die mit einer Lieferung Drogenpakete auf den Schultern und Gewehren in der Hand die einsame Leere der Wüste ausnutzen, um unbeobachtet über die Grenzmauer zu klettern oder über Erdwälle zu fahren. Ein Bild der Verhafteten, das das Militär kürzlich verbreitet hat, zeigt acht Männer mit zerzausten Haaren, ernster Miene, Schmutz im Gesicht und Sand auf den Hosen.
Doch es sind nicht nur Drogenpakete, die die Grenze überqueren. Sondern auch Waffen. In welche Hände sie gelangen, ist unklar.
Ein Netzwerk von Mitverdienern
In einem Haus, irgendwo in der nördlichen Provinz von Mafrak, etwa 20 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, sitzen vier Männer in einem Raum und unterhalten sich. Über die neuste Sorte Meth, über Lieferungen. Über Geld. Einer von ihnen ist ein Zwischenhändler, ein Verteiler, alle sind irgendwie im Geschäft – nur nicht offiziell. Darum reden die vier Männer in Gegenwart der taz nie über sich selbst, sondern nur in dritter Person. Zu groß ist die Gefahr, dass die Aufzeichnungen der Gespräche beim Falschen landen.
Ein offiziell arbeitsloser, sportlich gebauter Mann mit hochgezogener Kapuze und glitzerndem Ring am Finger sagt der taz: „Schau, es gibt große Dealer, kleinere Verteiler, und Leute, die verkaufen an Menschen, die sie kennen. Es ist wie ein Netz.“ Von Syrien aus landen die Tabletten, in Lkws versteckt, an verschiedenen jordanischen Orten nahe der Grenze, bevor sie größtenteils nach Saudi-Arabien weitertransportiert werden. Dort kann man die Pillen mindestens um einen Euro teurer verkaufen.
Der Bezirk Mafrak ist dabei ein wichtiger Knotenpunkt. Von diesem Handel, vom Drogenhandel, profitieren nicht nur die Produzenten in den jeweiligen Staaten, sondern auch lokale Stämme, die den Handel betreiben und überwachen, korrupte Beamte und die einzelnen Dealer. Das bestätigen mehrere Quellen. „Es ist wie ein Kreis“, sagt einer der vier Männer. Er hat ein jungenhaftes Gesicht.
Die Menschen, die in der syrischen Wüste das Drogengeschäft überwachen seien teilweise bidun, wie sie auf Arabisch genannt werden, übersetzt etwa Menschen ohne Identität. Staatenlose, die in Häusern mitten in der syrischen Wüste geboren werden und deren Geburt nicht registriert wird. Sie sind damit quasi für den Job geboren – oder dazu verdammt.
Im Dunst der Wüste
Manchmal sind es syrische Lkw-Fahrer, die mit dem Schmuggelgeschäft ihre schmalen Gehälter aufrunden. Manchmal Mitglieder beduinischer Familien. Mehrere Tausend Euro pro Monat kann der Job einbringen. Manchmal ließen sich Schmuggler mit kleineren Päckchen erwischen, damit andere, größere durchkämen. Manchmal warte man auf den richtigen Moment: einen korrupten Beamten, einen Sandsturm.
Der feine Sand der Wüste, dieser rosarote Dunst, der bei jeder Brise aufwirbelt und zu Sonnenuntergang die spärlichen Häuser am Horizont wie dünner Nebel einhüllt, bis Himmel und Erde kaum mehr zu unterscheiden sind, dieser Nebel hilft dem Geschäft. Er bietet optimale Bedingungen, um die Grenze ungesehen zu überschreiten.
Raketenwerfer, Schützenminen, Sprengstoff tragen die Drogenhändler manchmal auch bei sich. „Hier in Jordanien besitzen viele Menschen Waffen. Auf dem Schwarzmarkt kommen sie auch aus Syrien. Meistens bleiben sie aber in Jordanien“, sagt der Mann im Hoodie. Es gab jedoch Fälle, in denen sich die Waffen von Jordanien aus weiter einen Weg bis in die Westbank bahnten. Der prominenteste Fall war ein jordanischer Parlamentarier, Imad al-Adwan, der 2023 mit über 200 Pistolen und Gewehren im Gepäck ins Westjordanland reisen wollte.
Sicherheitsexperten sind besorgt. So wie Said Ejadat, Direktor des Zentrums für Strategische Studien der Jordanischen Universität in Amman. Man habe eine neue Welle des Drogen- und Waffenschmuggels aus Syrien gesehen, der die geografische Position Jordaniens und die Lage in Gaza nutzt, erläutert er. „Diese Gruppen dachten, dies könnte der richtige Zeitpunkt sein.“
Waffen fürs Westjordanland?
Während der Weg der Drogen relativ klar ist, ist bei den Waffen vieles unklar. „Wir kennen die exakte Menge nicht, wir wissen nicht, wer der Endkäufer ist“, sagt Ejadat. Die Möglichkeit, dass die Waffen im Westjordanland oder in Gaza landeten, habe zugenommen, schätzt er. Beides, Waffen sowie Drogen, seien für die gesamte Region gefährlich. „Jordanien kämpft einen Krieg, um die Stabilität der Region zu schützen.“ Wie lange das funktionieren wird, ist aktuell die Frage.
„Mit synthetischen Drogen wie Captagon und Crystal Meth entstehen neue, langfristige Herausforderungen für das Gesundheitswesen in der Region“, sagt Expertin Caroline Rose. Und das betrifft nicht nur die Golfländer. War Jordanien schon immer Transitland, entwickelt es sich zunehmend selbst zum Markt für den Stoff. Es wird geschätzt, dass etwa ein Fünftel aller Lieferungen in Jordanien selbst bleibt.
Es ist spät in der Nacht, eigentlich schon früh am Morgen, als der Wagen, in dem Ahmad* sitzt, über die verwaisten Fahrspuren der Abdoun-Brücke düst. Links und rechts ziehen die Lichter der Stadt vorbei wie kleine Glühwürmchen.
Ahmads Ziel ist eine Techno-Party in Westamman, dem wohlhabenden Gebiet der Stadt. In seiner Tasche liegt eine Zigarette, die er mit Marihuana versetzt hat. So wie andere junge Erwachsene konsumiert Ahmad, der in Wahrheit anders heißt, gelegentlich leichte Drogen. Mit Freunden. Zum Abhängen. „Einmal in der Woche Marihuana, maximal drei, Captagon einmal alle zwei Monate, auf Partys“, sagt der 30-Jährige. „Niemals allein.“
Captagon zum Feiern
Aus dem Radio strömt ein chilliger Elektrobeat. „Ich bin nicht abhängig. Aber ich finde, Treffen mit Freunden sind damit lustiger, alberner. Besser halt.“ Ahmad will anonym bleiben. Aus Angst, dass er Ärger mit der Justiz bekommt. In Jordanien drohen bei Drogenkonsum im schlimmsten Fall drei Jahre Haft und mehrere Tausend Euro Strafe.
Es ist unklar, wie verbreitet die Nutzung von Freizeitdrogen in Jordanien ist. Daten der Behörden zeigen jedenfalls einen steilen Zuwachs der angezeigten Drogenverbrechen im Vergleich zu vor zehn Jahren. Zwischen 2013 und 2022 hat sich diese Zahl verdreifacht, von etwa 6.000 auf 18.000. 2023 lag sie bei etwa 23.000. Eine Umfrage unter jordanischen Studierenden aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass etwa 7 Prozent der Befragten in ihrem Leben Drogen konsumiert haben, inklusive Tabak und Alkohol. Der Anteil scheint jedoch sehr niedrig, verglichen mit früheren Studien.
Gut ein Fünftel der Patient*innen in Entzugskliniken nutzte 2020 Captagon. Jenseits der Kriminal- und Rehafälle ist es jedoch nicht leicht, Daten über den Konsum zu finden. In konservativen, muslimischen Gesellschaften ist dies ein Tabu, das mit Scham, Schuld und Ehrverlust behaftet ist. Sicher ist, dass der Verbrauch von Captagon und Crystal Meth in den letzten Jahren zugenommen hat, wenn auch Marihuana die am meisten konsumierte Substanz bleibt.
Das bestätigt Ali al-kam, Facharzt für Psychiatrie beim privaten Al-Raschid-Krankenhaus. „Die üblichsten Drogen unter unseren Patient*innen sind Aufputschmittel, etwa Captagon, allein oder mit anderen Stoffen, die eine beruhigende Wirkung haben.“ Er sitzt an seinem Schreibtisch und blättert nachdenklich in einer Liste, fährt mit seinem Stift über die Namen.
Teure Entgiftung
Issa* zum Beispiel, 35 Jahre alt, verheiratet, Kinder, habe mit Cannabis und Captagon angefangen und sei dann auf Crystal Meth umgestiegen. Eine synthetisch hergestellte Droge, die kurzfristig Glück erzeugt und langfristig Psychosen, Halluzinationen, Angststörungen. In Issas Fall war es die Familie, die ihn eingewiesen hat, nachdem er in paranoiden Eifersuchtsanfällen seiner Frau drohte.
In Al-Kams Klinik, eingenistet zwischen den Hügeln der Hauptstadt, kommen vor allem wohlhabende Patient*innen, um sich den Drogen und, für eine Weile, der Welt zu entziehen. Etwa 5.000 US-Dollar pro Monat kostet im Schnitt ein Entzug. Dafür müssen sie keine „kalte“ Entgiftung erleben, sie bekommen etwa bei Bedarf Methadon, damit die Schmerzen und das Verlangen nicht so heftig sind.
In den weiß gestrichenen Fluren hängen bunte, abstrakte Bilder, in der Luft liegt ein Geruch von Desinfektionsmitteln und Kaffee. Am Empfang begrüßen eine lächelnde Frau in weißem Kopftuch und ein junger Mann mit sauber gestutztem Bart und Hemd ankommende Patient*innen und deren Angehörige. Draußen ist das Wetter kalt und grau, drinnen die Atmosphäre warm und pastellfarben.
Etwa 400 bis 500 Einweisungen pro Jahr hat die Klinik. Die Zahl hat sich in den letzten neun Jahren mehr als verdoppelt. „Das liegt daran, dass die Stoffe leichter zu kriegen sind, und an der wirtschaftlichen Lage: Absolvent*innen finden keine Jobs“, erklärt der Arzt. Im Internet gibt es Videos, die für Captagon werben. Etwa mit jungen, gut angezogenen Männern auf sanften Wiesen, die Erfolg dank der Pillen versprechen. „Niedriges Selbstwertgefühl“, sagt al-Kam, sei die Hauptursache für Abhängigkeit.
Die Familie distanzierte sich
Gleichzeitig ist es nicht leicht, Hilfe zu suchen. Das Stigma rund um mentale Gesundheit ist in der jordanischen Gesellschaft fest verankert. „Fehlende Motivation ist das Schwierigste“, sagt al-Kam. Er spricht ruhig und langsam. „Mehr als zwei Drittel der Patienten erleben einen Rückfall.“ Nachsorgeprogramme sind hilfreich, können jedoch bis zu zwei Jahren dauern.
Und nicht jeder kann sich einen Entzug leisten. Die meisten Krankenversicherungen, falls die Patient*innen überhaupt eine haben, tragen nicht die Kosten für psychische Behandlungen oder zumindest nicht vollständig. Die private Klinik ist nicht die einzige Option. Drei Rehabilitationszentren für Drogensüchtige gibt es in Jordanien.
Etwa sechs Kilometer weiter südlich steht ein Gebäude aus weißem Sandstein. Drinnen sitzt Furkan in einem Raum und erzählt, er habe Drogen genommen, seit sein Vater vor sieben Jahren starb. Gegen die Traurigkeit. Immer mehr, in immer höheren Dosen. Captagon, dann Meth. Der Lohn als Verkäufer habe dafür irgendwann nicht mehr gereicht, dann habe er angefangen zu dealen. An Freunde, Nachbarn, „vertraute Menschen“. Einen Teil des Stoffs behielt er für sich.
Irgendwann kamen die Halluzinationen, die Selbstmordgedanken. Er bat seine Familie um Hilfe, doch die waren mit der Lage überfordert. Als er sich auf Rat von Bekannten einliefern lässt, wollen ihn Mutter und Geschwister nicht besuchen. „Die ersten sechs Tage waren am schlimmsten“, erzählt der 25-Jährige in pinkem Hemd und lächelt, der Blick etwas unstet.
Nicht nur der Körper ist in Behandlung
Noch vor elf Tagen saß Furkan auf einem Bett in einem kahlen, blauen Zimmer und versuchte, gegen die Schmerzen und das Verlangen anzukämpfen. Jetzt sei er clean, nehme aber noch Medikamente. Die Familie sei inzwischen überzeugt, dass es doch eine gute Idee war, dass Furkan hierher kam. Jetzt besuchten sie ihn zweimal die Woche, sagt er. Seine dunklen Augen glänzen.
Das Behandlungszentrum „Drug Enforcement Administration Addiction Treatment Center“ wurde bereits 1993 gegründet, es unterliegt der Drogenbekämpfungsabteilung der Polizei. Die Behandlung hier ist kostenlos und wer sich einweisen lässt, bleibt von der Strafverfolgung verschont.
Am Eingang des Gebäudes, umgeben von Mauern, stehen junge Soldaten, die Sturmgewehre über der Uniform. Hinter der Eingangstür wartet Oberstleutnant Jasan al-Barmawi, der Leiter des Zentrums. In seinem Büro hängen Bilder des jordanischen Königs in Militäruniform, hinter seinem Tisch hängen die Flagge Jordaniens und das Symbol der jordanischen Armee.
„Bei einer Behandlung geht es nicht nur um den Körper, sondern auch um die Psyche, die Umgebung und das soziale Umfeld. Kümmert man sich nur um einen Aspekt, wird der Patient früher oder später zurückkehren“, betont er.
Bodybuilding und Töpferkurse
Der Oberstleutnant trägt keine Uniform, sondern eine grüne Sportjacke. Hinter den Ledersesseln stehen bunte, handgemalte Tontöpfe in einer Reihe. „Die haben die Patienten getöpfert.“ Al-Barmawi listet mit einem gewissen Stolz die Programme der Einrichtung auf: Sport, Billard, Fußball, Keramik, Religion, Schneiderei. „Wir möchten, dass sich die Patienten zu Hause fühlen.“
In den schlichten Fluren öffnen sich ein Sportraum mit Kraftgeräten und Plakaten von Bodybuildern, hellblau gestrichene Schlafzimmer, eine Keramikausstellung, ein leeres Auditorium. Eine komplette Rehabilitation, inklusive Nachsorge, nehme sechs Monate bis ein Jahr in Anspruch, sagt er.
Und gibt ebenfalls zu: Die Zahl der Patient*innen hätte in den letzten Jahren zugenommen. Wegen der größeren Verfügbarkeit des Stoffes. Eine Pille Captagon kostet auf dem jordanischen Markt 2 bis 3 Dinar, umgerechnet etwa 2,60 bis 3,90 Euro. Ein Gramm Crystal Meth kostet 25 bis 56 Euro. Das Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 580 Euro. Ein Patient erzählt, er habe 2.000 Dinar, etwa 2.500 Euro pro Monat, für Drogen ausgegeben.
Was tun gegen das Drogenproblem, gegen den Schmuggel? Mehr Polizeioperationen gegen Dealer und mehr Awareness-Kampagnen, sagt al-Barmawi. Strafen für Dealer, nicht für Abhängige, empfehlen Expert*innen. Multilaterale Koordination „unter vertrauten Ländern in der Region“ sei wichtig, findet US-Forscherin Caroline Rose. Jordanien, Syrien, der Irak und der Libanon wollen jetzt laut Medienberichten eine „Kommunikationszelle“ errichten, um Informationen auszutauschen. Denn, wie Rose betont: Wer vom Handel profitiert, sei bekannt.
*Name von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind