Drogenmissbrauch in Berlin: „Stärkere soziale Verelendung“
Mit 271 Drogentodesfällen verzeichnet Berlin einen neuen Höchststand. Stefan Wiedemann von der Drogenberatungsstelle Vista über die Situation im Wrangelkiez und am Leopoldplatz.
taz: Herr Wiedemann, am Montag findet eine Gedenkveranstaltung für Menschen statt, die im Zusammenhang mit Drogenkonsum gestorben sind. Mit 271 Drogentodesfällen im Vorjahr verzeichnet Berlin einen Höchststand. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Stefan Wiedemann: Die Berliner Zahlen decken sich mit dem Bundestrend. 2.237 Todesfälle im Bund, auch das ist ein neuer Höchststand. Aber das ist keine überraschende Entwicklung, die Zahlen steigen seit Jahren.
Was hat sich verändert?
Es gibt Veränderungen, was die konsumierten Substanzen betrifft, die bei den Verstorbenen nachgewiesen wurden. Früher waren das im Wesentlichen ausschließlich Opiate …
Der Aktionsbündnis Gedenktag in Berlin findet am Montag, den 22. Juli, um 14 Uhr am Kottbusser Tor statt.
Neben Wortbeiträgen von betroffenen Menschen und Mitarbeiter*innen des Hilfesystems gibt es Musik und Aktionen, um der 271 verstorbenen Drogenkonsument*innen in Berlin zu gedenken. Mit der Installation einer Parkbank in Regenbogenfarben auf dem Oranienplatz macht das Bündnis darauf aufmerksam, dass Drogenkonsument*innen, Menschen ohne Obdach und alle gesellschaftlichen Randgruppen sichere Räume benötigen.
… also Heroin.
Mittlerweile spielen auch andere Substanzen eine Rolle. In Berlin beobachten wir einen Anstieg bei dem Konsum von Crack. Außerdem besorgen uns synthetische Opioide wie Fentanyl, die in den USA sehr stark konsumiert werden. Noch konnten wir aber nicht feststellen, dass sich der hiesige Opiatmarkt dahingehend umgestellt hat.
Stefan Wiedemann
55 Jahre, Diplom-Pädagoge, leitet bei Vista Berlin den Fachbereich für betreutes Wohnen und Substitution. Er ist seit 2003 bei Vista, einem Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit.
Was wissen Sie über die Situation der Menschen, die in Berlin gestorben sind?
Allgemein kann man sagen, dass sie im stärkeren Maße sozial verelendet sind. Wohnungslosigkeit spielt gerade in Berlin im Vergleich zu den Vorjahren eine sehr große Rolle. Sie leben prekär auf der Straße unter entsprechenden schlechten Bedingungen.
Sterben diese Menschen oft in U-Bahnhöfen oder Hausfluren?
Die Auffindeorte sind breit gestreut. Es handelt sich um den öffentlichen Raum, in vielen Fällen aber auch um den eigenen Wohnraum. Was wir sicher sagen können: Die Todesfälle passieren nicht in Drogenkonsumräumen. Das ist eine sehr gute Nachricht. Deshalb sehen wir die Konsumräume auch als eine gangbare Safer-use-Strategie an. Dass die Leute dort sicher konsumieren können. Aber die Konsumräume sind natürlich nicht immer geöffnet und nicht alle Leute nutzen sie.
Was gibt es noch für Erkenntnisse?
Gerade im niedrigschwelligen Bereich stellen wir eine Zunahme von Menschen fest, die nicht kranken- und sozialversichert sind. Stichwort: Zuwanderung aus dem vorwiegend osteuropäischen Raum, EU-Bürger, die keinen Versicherungsschutz haben. Lebensrettende Maßnahmen wie eine Substitutionsbehandlung steht ihnen nur eingeschränkt zur Verfügung.
Im Wrangelkiez in Kreuzberg und am Leopoldplatz in Wedding häufen sich die Klagen aus der Anwohnerschaft über eine zunehmend verelendete Drogenszene. Gibt es Maßnahmen, mit denen sich die Situation entschärfen ließe?
Eine ganz wichtige Maßnahme ist der Erhalt und Ausbau der niedrigschwelligen Maßnahmen.
Drogenkonsumräume und -mobile gibt es in Berlin aber schon einige.
Konzeptionell ist das Land Berlin schon gut aufgestellt, das ist richtig. Aber die Angebote müssen erhalten und zumindest, was die Öffnungszeiten betrifft, ausgebaut werden. Das sage ich auch in Hinblick auf die Spardiskussion, die im nächsten Jahr ansteht. Das macht uns natürlich Sorgen.
Gäbe es denn genug Personal, um die Öffnungszeiten zu erweitern?
Auch wir leiden unter dem allgemeinen Fachkräftemangel. Im Moment gelingt es uns noch, Personal zu finden, im Bereich der Pflegekräfte, die wir neben den Sozialarbeitenden in den Drogenkonsumräumen beschäftigen, ist das aber zunehmend schwierig. Nichtsdestotrotz würden wir uns bemühen, die Öffnungszeiten auszuweiten. Die Voraussetzung wäre aber, dass uns dafür entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Nicht alles ist eine Frage des Geldes. Für das Kottbusser Tor zum Beispiel gab es gerade 250.000 Euro Sondermittel vom Senat. Trotzdem nehmen die Klagen der Anwohner zu. Was läuft da schief?
Die Situation ist nicht plötzlich explodiert. Das ist eine kontinuierliche und absehbare Entwicklung. Was sich aber verändert, ist die Wahrnehmung der Umgebung.
Vielleicht sind die Leute mit ihrer Geduld am Ende.
Das kann so sein, das finde ich nachvollziehbar. Man darf aber nicht vergessen, dass sich auch die entsprechenden Kieze verändern. Auch am Leopoldplatz hat sich die Bevölkerungsstruktur durch Gentrifizierung geändert.
Wollen Sie damit sagen, dass die frühere Anwohnerschaft toleranter war?
Das ist eine Mischung aus vielem. Am Leopoldplatz ist die Belastung über viele Jahre größer geworden, das ist sicher ein wesentlicher Faktor. Es hat aber auch damit zu tun, dass bürgerliche Menschen sich vielleicht schlagkräftiger äußern können. Was völlig in Ordnung ist.
Im Wrangelkiez gibt es Menschen, die dort schon seit Jahrzehnten leben und von unzumutbaren Zuständen sprechen.
Ich wohne selbst im Wrangelkiez und kann sagen: Die Entwicklung ist nicht plötzlich eingetreten.
Das tröstet aber keinen.
Der entscheidende Faktor ist, dass viel mehr drogenabhängige Menschen als früher kein Dach mehr über dem Kopf haben und deshalb in der Öffentlichkeit viel sichtbarer werden. Trotzdem muss man differenzieren. Im Wrangelkiez konnte man beobachten, dass mit jedem Versuch der Ordnungskräfte, stärker durchzugreifen, die Problem in den umliegenden Straßen größer geworden sind. Damit will ich nicht sagen, dass jemand nicht berechtigt ist, das als belastend zu empfinden.
Also was könnte helfen?
Was wirklich helfen würde, wäre Angebote zu niedrigschwelligen Substitutionen zu schaffen. Den ganz einfachen Zugang zu Methadon-Programmen zu schaffen auch für Menschen, die nicht versichert sind.
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