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Dreißig Jahre nach der WiedervereinigungDie Zukunft liegt im Osten

Kommentar von Daniel Dettling

Vor den Wahlen wird viel über die Probleme Ostdeutschlands gesprochen. Um etwas zu verändern, müssen wir auch über das Potenzial des Ostens reden.

Erneuerbare Energien und fliegende Autos? In welche Zukunft schaut der Osten? Foto: dpa

D reißig Jahre nach der Wiedervereinigung und kurz vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird Ostdeutschland eine düstere Zukunft prognostiziert. Abwanderung, Arbeitslosigkeit und AfD sind die dominierenden Angst­themen. Vom neuen Strukturwandel ist der Osten stärker betroffen als der Westen. 11 der 19 Regionen, denen das Institut der deutschen Wirtschaft in einer neuen Studie massive Zukunftsprobleme vorausgesagt hat, liegen in den neuen Bundesländern. In vielen dieser Regionen ist die AfD inzwischen stärkste Partei. Lässt sich die negative Abwärtsspirale stoppen?

Zu den zentralen Ursachen des im Osten verbreiteten Gefühls, zu den Verlierern des Wandels zu gehören, zählt die demografische Katastrophe nach 1990: eine historisch einmalige Abwanderung von Fachkräften. Insgesamt verließen fast 4 Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, den Osten, um sich im Westen eine sichere Zukunft aufzubauen.

Jetzt dreht sich der Trend: Zum ersten Mal gibt es einen positiven Saldo von Zuzügen aus dem Westen in den Osten. Gewinner des demografischen Trends sind bislang nur die „Schwarmstädte“ Leipzig, Dresden, Chemnitz, Erfurt, Jena und Potsdam und ihr Umland. Entlegene Regionen und der ländliche Raum gehören zu den Verlierern. Profiteur der Entwicklung ist die AfD: Je strukturschwächer die Region, desto stärker sind die Rechtspopulisten. Nicht nur im Osten, aber vor allem dort.

Der britische Entwicklungsökonom Paul Collier beschreibt in seinem neuen Buch „Sozialer Kapitalismus“ die zunehmende Kluft zwischen Städten und abgehängten ländlichen Regionen als die gefährlichste Entwicklung und warnt in der Einleitung zur deutschen Ausgabe vor tiefer werdenden Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland.

Ihre Lebenswelten entfremden sich

Einen Grund sieht er darin, dass beide, urbane Kosmopoliten und lokale Sesshafte, immer weniger in Kontakt kommen. Ihre Lebenswelten entfremden sich zunehmend voneinander. Die urbane Elite fühlt sich den weniger Gebildeten und Einwohnern in ländlichen Regionen gegenüber moralisch überlegen. Für die Sesshaften hat sich das Versprechen von Demokratie und Marktwirtschaft – ein steigender Lebensstandard für alle – nicht erfüllt. Sie erwarten, dass es ihren Kindern in Zukunft schlechter gehen wird.

Zum Symbol für den Verlust des Niedergangs wird der Kohleausstieg. Der Abbau von Kohle gilt in den Regionen als Garant für Wohlstand und ­Zukunft. Der Ausstieg aus der Kohle kann zur zweiten Chance für den Osten werden, wenn er zum Einstieg in eine neue und nachhaltige Standort­politik wird. Aus den alten Braunkohlerevieren müssen Zukunftsregionen werden. Es geht um die Themen Mobilität, erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft, Ernährung, nachhaltiger Tou­rismus und künstliche Intelligenz. Der Osten kann zur ersten klimaneutralen Region der Welt werden.

taz ost

Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.

Für den Strukturwandel braucht es nicht nur Geld, sondern auch einen Kulturwandel. Neue Technologien, Forschungseinrichtungen, Start-ups und Unternehmen und die Ansiedlung von mehr staatlichen Behörden sind nötig, aber nicht hinreichend. Nachhaltige und neue Wertschöpfung entsteht vor allem aus der Vernetzung und Kooperation von kreativen und innovativen Unternehmen, Kommunen und den Bürgern vor Ort. Es geht um exzellente Bildung, auch auf dem Land, internationale Kulturevents und Partnerschaften mit dem Ausland.

Die Regionen brauchen mehr Zuwanderung. Die Mehrheit der ostdeutschen Unternehmen ist im ländlichen Raum ansässig und sucht händeringend nach Arbeitskräften. Diese werden nur dann kommen, wenn sie an eine sichere Zukunft glauben, angefangen bei Kinderbetreuung und Bildung über schnelles Internet und einen funktionierenden Nahverkehr bis zur ärztlichen Versorgung. Entscheidend dabei ist das Engagement der Bürger vor Ort: Pflegenetzwerke, Bürgerbusse, Vereine und Kulturangebote.

Ideenpolitik statt Identitätspolitik?

In diesem Jahr läuft der „Solidarpakt II“ aus. In den letzten 30 Jahren sind mehr als 250 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer geflossen. Für Ökonomen und Politiker ist das „Projekt Deutsche Einheit“ ein wirtschaftlicher Erfolg. Mate­riell hat der Osten aufgeholt. Statt um Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung geht es heute um Fachkräftemangel und Zuwanderung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich jetzt für einen „Solidarpakt der Wertschätzung“ und mehr Verständnis des Westens für die Umbrüche im Osten ausgesprochen. Die frühere Chefin der Treuhandanstalt, Birgit Breuel, hat in einem Interview mit der FAZ vor wenigen Wochen zu Protokoll gegeben: „Westdeutsche hätten das nicht durchgehalten.“

Der Solidarpakt endet, die eigentliche Debatte fängt aber erst an. Was nicht weiterbringt, ist Identitätspolitik, eine Teilung der Gesellschaft in Ost- und Westdeutsche, in Migranten und Einheimische. „Die Ostdeutschen“ gibt es ebenso wenig wie „die Westdeutschen“. Was es dagegen nötig ist, ist Ideenpolitik: Welche Anreize, Regeln und Innovationen braucht es für mehr Wertschöpfung und nachhaltiges Wachstum?

Der Osten braucht mehr Freiheit, eigene Wege zu gehen. Sonderwirtschaftszonen und mehr Investitionen in Bildung und Forschung gerade in den ländlichen Regionen bringen gut bezahlte Jobs und mehr Steuereinnahmen. Neue Ideen braucht auch der politische und gesellschaftliche Dialog. Die junge Generation stellt andere Fragen an die Geschichte und die Zukunft als ihre Eltern.

Bislang war das Leit- und Vorbild für die Zukunft der neuen Bundesländer immer der Westen. Damit ist es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung vorbei.

In Zukunft wird der Westen in Sachen Transformation einiges vom Osten lernen können. Die Zukunft liegt im Osten.

Links lesen, Rechts bekämpfen

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12 Kommentare

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  • Ich bin im Ruhrgebiet groß geworden, welches bis in die achtziger Garant für Arbeit und Wohlstand war. In gleichem Maße wie der Osten einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, ging es bergab mit dem Ruhrpott. Heute sieht es da aus wie DDR 89, eine abgehängte Region. Als bei uns der Bergbau dicht machte, der Stahl aus China billiger war als der von Thyssen und Krupp, gingen hier Millionen! Arbeitsplätze verloren. Hat sich damals die Politik gekümmert? Heute werden Milliarden in die dahinsiechende Kohle gesteckt, mit Hinweis auf die Arbeitsplätze. Wirklich, seit 30 Jahren hören wir immer nur ..der Osten....der Osten... ich kann es nicht mehr hören!

    • @rotaticus53:

      Immer diese Jammerwessis.... Darf ich Sie erinnern, 1989 lief der Ausstieg aus der Ruhrkohle bereits seit einem viertel Jahrhundert und ging noch 30 Jahre weiter. Das haben Sie ganz allein vergeigt. Ihr Kohleausstieg dauerte insgesamt fast sechzig Jahre.

      Versager. Weiter kann man dazu nichts dagen.

  • Für mich besteht der große Vorteil des Ostens darin, dass man sich als Frau freier von Belästigungen im öffentlichen Raum bewegen kann.

    Und als Atheistin schätze ich es, nicht ständig mit irgendwelchen religiösen Symbolen belästigt zu werden. Die Zahl der Nicht-Religiösen ist im Osten "gefühlt" höher.

  • Wieso soll die Zukunft in einer Gegend liegen in der eine große Minderheit der überalterten Bevölkerung national völkisch orientiert ist? Diese Bevölkerung wehrt sich massiv gegen das einzige was Schwung in den Laden bringen könnte -die Zuwanderung - . Es wird um die "Schwarmstädte" einige Inseln der Modernität und Liberalität geben. Im Rest der Fläche werden die "gelernten DDR Bürger vor sich hin osteln und langsam aussterben. Sobald sie keine -auch nur regional -relevante Wählergruppe mehr darstellen also in spätestens 30 Jahren kann mit der Neubesiedlung und dem Neuaufbau der Ostdeutschen Provinz begonnen werden.

    • @Thomas Dreher:

      "Westdeutsche hätten das nicht ausgehalten." Für mich besteht der Unterschied zwischen der BRD und der DDR allein dain, dass es in der DDR 40 Jahre lang keine Veränderung gegeben und in der BRD in der gleichen Zeit permanente Veränderung gegeben hat, die uns vor dem Zusammenbruch bewahrt hat. Es ist der Wandel der Stabilität schafft, sofern man ihn sozial gestaltet. Insofern halten wir im Westen den Wandel schon 70 Jahre aus. Ein krasser Irrtum von Frau Breuel

      • 4G
        4813 (Profil gelöscht)
        @Wiekum:

        Jaja, die Automarken von früher gibts nicht mehr.

    • @Thomas Dreher:

      "Im Rest der Fläche werden die "gelernten DDR Bürger vor sich hin osteln..."

      "osteln" ist so ein geniales Verb ;)



      Und auch ansonsten volle Zustimmung.

      Ich sehe auch nicht, warum man das Wahlverhalten und die Gemengelage der "Restossis" goutieren sollte, in dem man da noch mehr Geld versenkt.

      Die Abwanderung aus dem Osten war schwerpunktmäßig jung, gut gebildet und weiblich.



      Dadurch stieg der Bevölkerungsanteil von alt, männlich, dumm auf eine signifikante Höhe.

      Das ist schlimm für den - patriotisch motivierten(?) - Teil der dort geblieben ist unicht zu dem Dumpbacken gehört - aber irgendwann ist auch mal genug.

      Wenn ich "Der Osten braucht mehr Freiheit, eigene Wege zu gehen. Sonderwirtschaftszonen und mehr Investitionen" lese, dann dreht sich mir der Magen um.



      Das machen wir seit 30 Jahren.



      Zu Lasten aller anderen Regionen.

      • 0G
        06455 (Profil gelöscht)
        @Michael Garibaldi:

        Genau da liegt das Problem.



        "Wir" machen das, damit gemeint ist der Westen.



        Die Betriebsfeiern und Firmenevents werden von den dort lebenden "Einheimischen"



        als Besatzerpartys bezeichnet.

        • @06455 (Profil gelöscht):

          Hat sie ja keiner gezwungen. Wir wollen doch mal festhalten, dass die Ossis einen eigenen Staat von den Russen zurück bekommen haben 1989 - mit dem sie machen konnten, was sie wollten.



          Kein Wessi konnte da was machen. Die DDR-Bürger haben ganz allein abgestimmt.

          Alle tun immer so, als sei der beitritt der DDR zur Bundesrepublik eine Zwangsläufigkeit gewesen und nicht der hirnverbrannte Ausdruck deutschtümelnden Nationalismus.

          Die Ossis wollten "heim ins Reich"....



          Niemand hat sie besetzt oder gezwungen.

    • @Thomas Dreher:

      Wieso die Zukunft in einer Gegend liegen sollt, in der eine große Minderheit der überalterten Bevölkerung national völkisch orientiert ist? Ganz einfach: Weil der Westen nicht (auch) untergehen will.

      Etwas anderes als Optimismus kann sich Deutschland im Bezug auf „den Osten“ gar nicht leisten. Die Umbrüche, die zu erwarten sind, wenn Bundesregierung, Wirtschaft, Medien und sonstige Entscheider die Dinge weiter laufen lassen, wie sie gerade laufen, würde Deutschland gar nicht verkraften. Dieses Land hat genau zwei Möglichkeiten: Es kann a) optimistisch sein in Bezug auf ALLE seine Landesteile, oder es kann b) untergehen.

      Das mit dem Untergang wäre irgendwie blöd, finde ich. Zumal es weit und breit kein besseres Deutschland (mehr) gibt. Deutschlands Eliten mögen sich zwar ausrechnen, dass sie sich womöglich anderswo eine Zuflucht kaufen können, wenn es dann so weit ist, aber dass Emigration wirklich jeden glücklich macht, ist historisch nicht belegt. Flüchtling zu sein ist etwas anderes, als einen Luxusurlaub zu machen. Und nicht mal den kann sich tatsächlich jeder Deutsche leisten.

      Ihrem Kommentar, werte*r THOMAS, glaube ich entnehmen zu dürfen, dass Sie nicht „aus dem Osten“ sind und auch keine emotionalen Verbindungen da hin besitzen. Damit stehen sie leider stellvertretend für viel zu viele Westdeutsche. In der Summe ist es genau Ihre Art der Arroganz („Ich, der Besser-Wessi)!“, die „den Westen“ daran hindert zu begreifen, dass er an genau dem Ast sägt, auf dem er selber sitzt. Und zwar zwischen dem Stamm und der eigenen Sitzposition. Leute wie Sie werden vermutlich frühestens dann kapieren, wenn es „Knack!“ macht. Ihr letzter Gedanke aber wird dann vermutlich sein: „Scheiß Osten!“

      Echt ärgerlich für mich, dass Sie und ich im selben Boot sitzen!

      • @mowgli:

        "Etwas anderes als Optimismus kann sich Deutschland im Bezug auf „den Osten“ gar nicht leisten."

        Lieber Mowgli,



        Ich sehe die Dinge immer optimistisch aber mein Vater war Landarzt von ihm habe ich gelernt, das vor jeder Therapie die genaue Diagnose stehen muß. Du bist in Deinem Beitrag nicht auf die von mir geschilderten demografisch politische Fakten eingegangen. Sondern hast "ad personam" argumentiert und Optimismus eingefordert. Es hilft aber nichts den Überbringer der Fakten - der übrigens nach der Wende im Ostharz gelebt und gearbeitet hat - abzuqualifizieren. Ich bin gern bereit Alternativen zu meinem Vorschlag des Aussitzens zu diskutieren, aber ich bin nicht bereit den genauen Blick auf die aktuelle Lage durch Optimismus zu ersetzen, den dann mach man Politik wie Mr Johnson.

      • @mowgli:

        Um das mal ganz deutlich zu sagen: "Wir" sind ja nicht in dieses Boot gestiegen. "Wir" saßen da schon drin, als DM-geile Horden beschlossen der BRD beizutreten, hat "uns" ja niemand gefragt....



        Und nu gefällt es nicht mehr?



        Und das ist unsere Schuld? Weil wir blöde Wessis sind?

        Niemand hat bestimmt, das alle, die etwas ähnliches wie deutsch sprechen, in einem Land leben müssen. Das ist nirgendwo in Stein geschrieben.

        Österreicher und Deutsch-Schweizer leben ja auch in einem eigenen Land.



        Da kann man dann seine Mentalität prima ausleben und alle verstehen die weinerlichen Befindlichkeiten. Ganz herrlich Identitär, wahlweise von Nazis oder Stalinisten regiert.



        Alles machbar. Die AfD will ohnehin aus der EU.