Dreikönigstreffen der FDP: Die FDP und die Kassiererin
Christian Lindner spricht in Stuttgart parolenfrei über Europa. Generalsekretärin Nicola Beer überrascht mit einer neuen Zielgruppe.
STUTTGART taz | „Begeisterungsstürme gab’s ja keine“, sagt ein groß gewachsener Mann zu seiner Begleitung, als er über den Schlossplatz dem baden-württembergischen Feiertagsbraten entgegenschreitet. Montag Vormittag hat Christian Lindner beim traditionellen Dreikönigstreffen der FDP im Stuttgarter Staatstheater gesprochen. Rhetorisch stark und thematisch tief. Aber was bleibt von einer weitgehend parolenfreien Rede?
Lindner verengt die Partei auf das Thematische. Er spricht über die Identitätskrise Europas, die er mit liberalen Parteien anderer Staaten beheben will, damit nicht „Bauernfängerparteien wie die AfD“ davon profitieren. Er spricht über das Parteienspektrum in Deutschland, wo der Begriff der Liberalität Konjunktur habe, was der FDP aber nicht schade – vielmehr könne sie sich gegen die „Möchtegern-Liberalen“ abgrenzen.
Alles Übrige ist geläufig: die Bürger entlasten, damit sie sich mit ihrem Geld etwas aufbauen können; einer Überregulierung aus Brüssel den Kampf ansagen – und das Lob für das Leistungsprinzip, das bei Liberalen niemals fehlen darf.
Dem Justizminister Heiko Maas (SPD), der gerade die Vorratsdatenspeicherung auf Eis gelegt hat, wünscht Lindner Standhaftigkeit, seine Entscheidung gegenüber der Union zu verteidigen. Privatheit sei das empfindlichste Bürgerrecht, sagt er. „Von dieser Regierung aber wird keine offensive Bürgerrechtspolitik ausgehen.“
Wahlweise zu hart oder zu links
Inhaltlich überraschend ist die neue Generalsekretärin der FDP, Nicola Beer: Mit ihrer Ansicht, wer eigentlich der sogenannte „Leistungsträger“ ist, vom dem die Partei immer gerne redet, hat sie sicher manchen im Saal genervt, der vor allem sich selbst dafür hielt. Doch Beer rechnet dazu auch „den jungen Mann aus einer bildungsfernen Familie, der alles dafür tut, seinen Abschluss zu schaffen. Die alleinerziehende Mutter, die nach einem Arbeitstag abends noch die Kinder in den Schlaf singt.“ Und stellt die Frage: „Wissen die Leute, dass wir von ihnen sprechen, wenn es um Leistungsträger geht?“
Sie fordert ihre Partei auf, auf diese Menschen zuzugehen: „Wir müssen eine Sprache finden, die sie erreicht.“ Und noch einen Gedanken formuliert Beer für die FDP: „Wir dürfen uns nicht gleich in die Furche ducken, wenn die Frage der sozialen Gerechtigkeit gestellt wird.“ Aus Angst, wahlweise zu hart oder zu links zu wirken. Rechts oder links hält sie dennoch nicht für gute Kategorien, wenn es um die Zukunft der Kinder eines Landes geht. Da gibt es für sie nur richtig und falsch.
Die Nibelungentreue zur CDU
Beer ergreift das Wort für die Schwachen. Zum Beispiel für die Kassiererin, die wegen der großen Koalition und der von ihr nicht verhinderten kalten Progression weniger Geld in der Tasche haben wird. Wer hätte das gedacht, die Kassiererin und die FDP? Was aber nun der Mindestlohn für die Kassiererin bedeuten könnte, der von der großen Koalition beschlossen wurde, von Beer aber strikt abgelehnt wird, sagt sie nicht.
Geht die FDP auf plumpen Wählerfang in bislang kaum beachteten Gesellschaftsschichten? Dabei wirkt die Partei in Stuttgart nicht, als spekuliere sie schon jetzt wieder auf die Macht. „Wir sind so unabhängig wie nie zuvor, in der Sache und politisch“, sagt Lindner. „Jetzt zählt unser eigener Kompass.“
Die Fußfessel der schwarz-gelben Koalition hat man verloren. Landeschef Michael Theurer fordert ohnehin, die Nibelungentreue zur CDU aufzugeben. Die FDP fühlt sich frei. Beer regt „zum Ärmelaufkrempeln“ an. Merkwürdig, dass in Stuttgart der heimliche Star der Veranstaltung die FDP-Generalsekretärin war. Wie einst der FDP-Generalsekretär Lindner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind