Drei Kunstmachende über Kultur in Türkei: „Auf einem schmalen Grat“
Wie frei ist die türkische Kunstszene noch nach zwanzig Jahren Erdoğan? Ein Gespräch mit Silvina Der Meguerditchian, Pinar Öğrenci und Viron Erol Vert.
taz: Nun eröffnet das neue Museum Istanbul Modern. Das Gebäude ist von Renzo Piano, in der Sammlung werden Anselm Kiefer oder Haegue Yang neben türkischen Größen wie Nil Yalter oder Gülsün Karamustafa geführt. Provokativ gefragt: Läuft es für die zeitgenössische Kunst in der Türkei nicht jetzt, kurz vor der Präsidentschaftswahl, ganz gut?
Silvina Der Meguerditchian: „Man erkennt den Zustand der zeitgenössischen Kunst daran, wie sie mit den am meisten bedrohten ihrer Glieder verfährt“, würde ich in einer abgewandelten Version von Gustav Heinemann sagen. Solange Künstler:innen, Mäzen:innen, Kreative im Gefängnis sitzen, kann mich das Istanbul Modern nicht groß beeindrucken.
wurde 1975 geboren und ist zwischen Deutschland, der Türkei und Griechenland aufgewachsen. Als bildender Künstler lebt er in Berlin und Istanbul.
In den zwei Dekaden unter Präsident Erdoğan nahmen Autoritarismus und Repression zu, doch der türkischen Kunstszene sagt man noch nach, recht frei und kritisch zu sein. Woher kommt dieser Ruf?
Pinar Öğrenci: Ich denke, das geht noch auf die 90er Jahre zurück. Politisch eine ungewisse, chaotische Zeit, aber die türkische Kunstszene blühte: Hüseyin Alptekin, Esra Ersen und Halil Altındere waren einflussreich. Viele Künstler:innen arbeiteten im öffentlichen Raum, nutzten die Stadt als Bühne. Das taten auch die Istanbul-Biennalen der 90er Jahre. Sie haben vielen politischen Künstler:innen eine Plattform gegeben.
Wann war der Wendepunkt in der Kunstszene?
wurde 1967 in Buenos Aires geboren, lebt seit 1988 in Berlin und stellte vielfach in der Türkei aus. Die bildende Künstlerin ist eine Vertraute des dort seit 2017 inhaftierten Mäzens Osman Kavala.
P. Ö.: Der kam mit den Wahlen im Juni 2015. Die prokurdische Partei HDP gewann mehr als 10 Prozent der Stimmen und konnte ins Parlament einziehen. Von da an änderte sich die Stimmung im Land. Es gab Bomben- und Mordanschläge, Provokationen, viele Menschen starben bei Demonstrationen. Dann hatten wir im November eine weitere Wahl, die Erdoğans AKP gewann. In dieser Zeit begann die Repression. Leute wurden auf der Straße festgenommen und oftmals ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit verhaftet.
Auch Künstler:innen, vor allem Fotograf:innen und Filmemacher:innen, weil sie ja potenziell etwas dokumentieren könnten, das nicht gesehen werden soll. Ich selbst wurde nach einer Friedensdemonstration inhaftiert, dann folgte ein zweijähriges Gerichtsverfahren, in dem 18 Jahre Haft für mich gefordert wurden. Ich musste danach das Land verlassen. Es war klar, dass ich mich in der Türkei nicht mehr frei ausdrücken konnte.
S. D. M.: 2015 war ich das letzte Mal in der Türkei. Als Künstlerin, die über die armenische Kultur dort arbeitet, traue ich mich nicht ins Land. Und solange Osman Kavala in Haft ist, reise ich aus Protest nicht ein.
wurde 1973 in Van (Osttürkei) geboren, ist bildende Künstlerin und Filmemacherin. Sie gründete 2010 den freien Ausstellungsraum MARSistanbul. Seit 2018 lebt sie in Deutschland.
Die Kunst zog sich also seit 2015 aus dem öffentlichen Raum zurück?
Viron Erol Vert: Die Situation hat sich schon mit den Gezi-Protesten 2013 fundamental geändert. Ihre große, auch internationale Unterstützung bestätigte bei der Landesführung die Angst vor einer Fremdeinwirkung aus dem Westen, die wohl eine der tiefsten Ängste zu sein scheint. 2013 nahm ich an einer Parallelausstellung zur Istanbul Biennale teil und wollte meine Arbeit im Garten einer griechisch-orthodoxen Kirche zeigen. Aber aus Furcht vor Repressalien wurde mir abgesagt und ich installierte sie dann als eines von wenigen Kunstwerken während der Biennale in einem (halb-)öffentlichen Raum auf dem Schulhof des Zografiyon Gymnasiums in Galata.
Ich glaube, die Politik hatte, wie viele Menschen außerhalb der Kunstszene, bis 2013 nicht verstanden, was es bedeutet, wenn Kunst an einem öffentlichen Ort stattfindet, dass sie ihn verändern kann. Jetzt reagieren die Leute harsch.
Vielleicht gibt es keinen Platz für eine freie Kunstszene in einem Land, das wegen seiner Bauwut auch Constructocracy genannt wird?
P. Ö.: Viele Projekte der freien Szene stoppten ihre Aktivitäten. Als ich das Land verließ, musste ich auch meinen Ausstellungsraum aufgeben. Wohn- und Arbeitsraum wird immer teurer. Meine Wohnung in Istanbul etwa wurde in den letzten Jahren von einem städtischen Transformationsprojekt regelrecht umzingelt. Wir haben uns über Jahre mit den Immobilienentwicklern herumgeschlagen. Das Haus wird nun abgerissen.
V. E. V.: Die Politik hat auch die materielle Kultur erlöschen lassen. Istanbul und die gesamte Türkei waren bis vor einigen Jahren mit der Fülle an Handwerk, Kunsthandwerk, Material für mich als Künstler einzigartig. Doch das gibt es nicht mehr. Das hat mit dem maroden Ausbildungssystem zu tun. Und auch mit der Inflation. Die Preise ändern sich täglich, fast stündlich. Dieses Verschwinden einer Kultur wirkt sich auch auf die Identität einer Gesellschaft aus.
Abreißen und neu bauen, ist das nicht auch eine Form von Kontrolle über die Kultur?
P. Ö.: Eine meiner Assistentinnen wollte einmal ein Video über den Bau eines neuen Wohnkomplexes drehen. Die Baufirma kam direkt zu ihr und drohte, dass sie sich in Gefahr begeben würde. Das sind in der Türkei mächtige Unternehmen, und sie würden sehr aggressiv gegen einen vorgehen. Wenn es in einem Land keine Redefreiheit gibt, können wir auch nicht über urbane Rechte, Umweltrechte oder das Recht auf Wohnen sprechen. All diese Dinge sind miteinander verbunden.
S. D. M.: 2014 habe ich das Theaterprojekt „Wohin? (Nereye?)“ mit Cağla Ilk gemacht. Es ging um die Istanbuler Viertel Fener und Balat und wie systematisch seit Jahrzehnten versucht wurde, den Menschen ihre Häuser dort wegzunehmen. Damals konnten die Bewohner:innen noch zum Europäischen Gerichtshof ziehen und die Vorgänge stoppen. Seit 2016 ist man eine Geisel der Bauwirtschaft, man ist kein Bürger.
V. E. V.: Der Kampf um Stadtviertel wie Balat, Fener oder Tarlabaşı, hat eine lange tragische Geschichte. Da bündeln sich die große kulturelle Vielfalt der Türkei und dieses stete Bestreben der Politik – eigentlich schon seit Republiksgründung – sie nicht mehr sichtbar zu machen. Und das mit allen kapitalistischen Mitteln: Ganze Viertel, einst auch von Armenier:innen, Griech:innen, Jüd:innen oder Albaner:innen gebaut, weil sie über Jahrhunderte Mitbürger:innen des Landes waren, werden abgerissen, um sie dann im Hyperkitsch wieder aufzubauen und zu verkaufen. Ich frage mich manchmal, wie und ob sich der Kapitalismus so nutzen lässt, dass man mit dem kulturellen Reichtum auch etwas Gutes machen kann.
Man meint ja, die Galerien und Kunstmuseen der Türkei, die zumeist privat und nicht von staatlichen Geldern finanziert werden, wie jetzt auch das Istanbul Modern von der Eczacıbaşı Group gesponsort wird, geben der Kunst einen Raum für offene Kritik.
V. E. V.: Von außen mag es so wirken, als wäre die Kunstszene aufgeschlossen, schön reflektierend und kritisch. Letztlich wird die „freie“ Kunstszene ausschließlich privat gefördert, das schafft Verbindlichkeiten, birgt auch Gefahren. Und es werden bestimmte Themen ungern angesprochen: die türkisch-griechische Vergangenheit, Fragen um die aramäische, kurdische, alevitische Kultur im Land. Die Kuratorin Beral Madra, die nach wie vor in Istanbul lebt und arbeitet, macht da vielleicht eine Ausnahme.
P. Ö.: Ich glaube nicht, dass es einen Raum für Kritik gibt. Ich habe mir die Ausstellung „The 90s Onstage“ über interdisziplinäre, performative Kunst der 90er Jahre im SALT Beyoğlu angesehen. Die 90er wurden in kurdischen Gebieten von Gewalt beherrscht. Ich wuchs damals in der kurdischen Stadt Van auf. Väter, Schwestern und Brüder meiner Freunde wurden ermordet. Cumartesi Anneleri, die Samstagsmütter, saßen jeden Samstag vor der Galatasaray-Schule und forderten Aufklärung über den Verbleib ihrer im Polizeigewahrsam verschollenen Kinder. War das keine Performance? Aber die Ausstellung erwähnt das nicht. Ich frage mich, ob ich wirklich aus demselben Land komme wie die Ausstellungsmacher:innen.
S. D. M.: Das einzige Haus, das sich in der Vergangenheit wirklich traute, riskante Themen anzusprechen, ist Depo von Osman Kavala. Kavala hat ja auch mir ermöglicht, 2014 in Diyarbakır die Ausstellung „Erinnerung ohne Ort“ und ein Jahr später „Enkel, neue Geographien der Zugehörigkeit“ im Depo Istanbul zu machen. Es ging jeweils um das armenische Leben im Osmanischen Reich und sein Verschwinden in der Türkei. Aber Depo war mit solchen Themen immer alleine, die anderen Kunsthäuser haben hier und da mal was angesprochen, aber spätestens seit Osman Kavala in Haft ist, tut das kaum jemand mehr.
Osman Kavalas Kunstraum Depo gibt es doch noch?
SDM: Ja, aber man macht es ihnen schwer. Mal droht man, das Haus zu schließen, dann wieder nicht, dann all die Bürokratie und die Verbote – das ist auch ein perfider Weg, das Haus an der kurzen Leine zu halten.
Offenbar ist es das größte Risiko für viele Kunstschaffende, die Multikulturalität der Türkei anzusprechen?
V. E. V.: Eigentlich tauchen in meiner Arbeit keine gefährlichen Themen auf. Aber es ist schon ein Problem, dass mein Name für einige nicht nur türkisch klingt. Zu der Frage, ob ich Türke sei, erklärte mir eine Galeristin einmal, dass ich „ausschließlich“ ein türkischer Künstler sei und somit auch meine künstlerische Arbeit. In der jetzigen politischen Atmosphäre scheint es, dass man nur als türkischer, sunnitischer Mann Erfolg haben kann.
Oder man muss sich mit den Zuständen arrangieren?
V. E. V.: Da gibt es die, die sich arrangieren und im Land bleiben, und die, die gehen. Nicht alle im Land spielen das Spiel mit. Aber wenn man genauer hinsieht, gibt es diese Spaltung. Und sie schafft eine seltsame Atmosphäre, die in den letzten Jahren immer stärker wurde.
P. Ö.: Wir sind mittlerweile eine Generation von Künstler:innen, die aus politischen Gründen im Ausland lebt, viele davon in Deutschland. Niemand in der Türkei ist daran interessiert, was wir tun oder welche Herausforderungen wir nun haben.
S. D. M.: Es gibt viele vor Ort, die auf einem schmalen Grat wandern und zwischen den Zeilen Kritik üben. Einzelne Künstler:innen oder Projekte, das feministische Filmfestival etwa. Meistens werden sie von ausländischen Kulturinstituten finanziert, wie dem Institut français oder dem Goethe-Institut. Die verfolgen zwar ihre eigene Politik, aber für solche Initiativen sind die ausländischen Förderprogramme fundamental.
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