Dozentin über die Aufstände in Libyen: "Die Menschen haben den Diktator satt"
Das libysche Volk hat genug von Gaddafi. Dr. Jacqueline Passon, selbst in Libyen aufgewachsen, über den Stimmungswechsel der letzten Jahre.
taz: Frau Passon, wie war die Stimmung, als sie zuletzt in Libyen waren?
Dr. Jacqueline Passon: Seit zwei bis drei Jahren beobachte ich, dass die Menschen spürbar mutiger geworden sind. Man wurde als Ausländer plötzlich auf der Straße angesprochen: Eine Lehrerin, die mit der ganzen Klasse unterwegs war, wollte, dass ich im Ausland berichte, dass die Familie Gaddafi weg muss. Die Familie gebe Millionen für die Hochzeit einer Gaddafi-Tochter aus, das Volk aber werde am Reichtum des Landes kaum beteiligt. Dass allerdings ein großer Aufstand bevor steht, konnte bis damals noch niemand ahnen.
Wie erklären Sie sich den Stimmungswechsel in den letzten Jahren?
hat als Kind in Libyen gelebt und kehrt seither regelmäßig dorthin zurück. Zuletzt war die Dozentin der Freiburger Universität im Mai 2010 vor Ort. Sie hat mehrere Publikationen über Libyen veröffentlicht und ein deutsch-libysches Forschungsprojekt geleitet.
Man sollte da zwischen dem Osten und dem Westen des Landes unterscheiden. Im Osten war man Ghaddafi gegenüber schon immer sehr kritisch eingestellt. Wahrscheinlich haben die Menschen nach 42 Jahren ihren Diktator einfach satt. Sie wissen ja über Internet und Fernsehen Bescheid, was in der Welt los ist. Die Libyer sind sehr stolz auf ihr Land und können nicht verstehen, dass der Westen schlecht von ihm denkt. Womöglich wissen sie jetzt, dass das schlechte Image von Libyen sehr viel mit Gaddafi zu tun hat.
Wer sind die Aufständischen?
Das ist die große Frage, wer diesen Aufstand gepuscht hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nur unzufriedene Jugendliche sind. Es gibt vor allem im Osten des Landes starke Stammesführer, die zum Teil mit Gaddafi noch Rechnungen offen haben. Die haben offenbar Morgenluft gewittert und sich von ihm abgewendet. Und wenn der Stammesführer entscheidet, stehen hinter ihm eine Menge Leute.
Wie ist die Gesellschaft in Libyen strukturiert?
Wirtschaftlich gesehen geht es den meisten Libyern deutlich besser als den Tunesiern und Ägyptern. Allerdings sind die jungen Erwachsenen sehr schlecht ausgebildet. Die 20- bis 40-Jährigen sprechen kaum Fremdsprachen. Seit Jahrzehnten herrscht ein ziemlicher Stillstand. So wurden die staatlichen Renten für die Bürger seit 25 Jahren nicht erhöht, während die Familie Gaddafi immer reicher wurde. Das hat viele Libyer verärgert.
Wie geht es weiter, wenn Gaddafi weg ist?
Bisher hat sich keiner der Stammesführer an die Spitze des Aufstands gestellt. Als ich die Libyer fragte, die Gaddafi loswerden wollte, wer denn dann die Macht übernehmen soll, konnten sie niemanden nennen. Vielleicht schlägt jetzt die Stunde für einen der mächtigen Stämme aus dem Osten des Landes. Von dort stammt auch der ehemalige König Idris as-Senussi. Seine Familie wurde nach seinem Sturz entmachtet, aber sie konnte ihr Vermögen behalten. Natürlich hat diese Familie mit Gaddafi noch eine Rechnung offen.Aber es ist zu früh, um zu sagen, wer sich letzten Endes wird durchsetzen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“