Dorf in Bayern: Wo Corona weit weg scheint
Die Straße ist dicht. Im oberbayerischen Griesen kann man wieder das Rauschen der Wildflüsse hören. Das Virus ist weit weg – oder doch nicht?
Die 55 Einwohner bleiben in ihren Wohnungen, Häusern und in den Gärten. Oder sind es 57 Menschen, die zwischen Bahnhof und Kapelle Mariä Heimsuchung am Waldrand wohnen? Die Familie, die in der alpenländisch anmutenden Villa am Dorfeingang wohnt, hat die nun fünf oder sieben Kinder? Drei Mobilfunkantennen ragen auf dem Dach empor, so viel steht fest. Sie verbinden den Ort mit dem Rest der Welt.
Die Welt und das Virus bleiben draußen, seitdem rot-weiß-gestreifte Metallbarrieren auf der Bundesstraße die Staatsgrenze von Deutschland und Österreich markieren und jeden Verkehr unmöglich machen. Ganz früher gab es hier Zoll- und Passkontrollen, wie ein verblichenes Schild auf dem Hof hinter dem zweistöckigen Grenzerhaus aus den 1920er Jahren zeigt.
In den Mietshäusern auf der anderen Straßenseite haben damals die Forstarbeiter gelebt, immer sechs Familien in einem Haus, heute sind dort beliebte und bezahlbare Wohnungen für Krankenschwestern, Handwerker und andere Menschen entstanden, die sich in Garmisch nix mehr leisten können und gern in der Natur wohnen.
Mitten durch den Ort läuft die Bundesstraße 23, die, versehen mit Mittelstreifen, aber ohne eine Randbefestigung, in Kurven entlang der Loisach und der eingleisigen Bahnstrecke durch das Tal von Garmisch-Partenkirchen nach Ehrwald in Tirol führt. Der Wald reicht bis an den Straßenrand, manchmal äst ein Rothirsch neben der Straße. Die Loisach rauscht über Steine, Felsen und Stromschnellen durch das Tal und verhindert bislang, dass die Straße ausgebaut wird.
Gaby Hasenpflug, Einwohnerin
„Hochwasser, Schneekatastrophe – wir haben hier schon so viel erlebt“, sagt Gaby Hasenpflug und winkt ab. „Ich bin in dem Alter, da mache ich mir nicht mehr viele Sorgen.“ Hasenpflug fährt nachts Taxi in Garmisch-Partenkirchen. Seit 1997 lebt sie in Griesen, davor hat sie als Lastwagenfahrerin in München gearbeitet. „Wenn man hier wohnt, ändert sich nicht viel“, sagt sie, ob nun eine Ausgangsbeschränkung herrsche oder nicht. Sie hat ihr Buch fertig geschrieben, einen Abenteuerroman, und macht nun, was sie auch an anderen Tagen im Frühling macht. Die Raben beobachten, Gimpel, Meisen, Amseln, Elstern füttern, die Sonne genießen. Und die Buchhaltung neu sortieren. „Ich vermisse nichts, sonst dürfte ich hier nicht wohnen.“
Die Corona-Grenze mit den rot-weißen Schildern und Plastikbändern steht einen Kilometer hinter Griesen. Links eine Weide, rechts der Wald, der schon zu Österreich gehört. 90 Kilometer sind es von dort bis Ischgl, dem Tiroler Ski-Ballermann, von dem aus Touristen das Virus in halb Europa verbreitetet haben. Viele von denen, die mit ihnen Autos nach Deutschland zurückfuhren, kamen vermutlich durch Griesen, damals, als es auf der Straße noch Verkehr gab. „Sie kommen aus I, A, CH – Achtung bitte 2 Wochen zu Hause bleiben“, blinkte ihnen ab Samstag, den 14. März auf einer elektronischen Anzeigentafel am Straßenrand in Griesen entgegen. Die Straßenwacht hatte die mobile Anlage über Nacht vor dem Kiosk „Grenzstüberl“ aufgestellt, der nun geschlossen hat. Keine Speckknödel mehr für Reisende und Nachbarn.
Ein paar Tage lang kontrollierten Polizisten noch, wer hindurchwollte. Erst standen sie auf der Staatsgrenze zwischen den Fichten, dann schlugen sie ein Zelt auf der Brücke über die Neidernach am Ortsausgang auf, kurz bevor der Fluss in die Loisach mündet. Minus neun Grad hatte es da in der Nacht. Jetzt kommen die Polizisten manchmal morgens und abends um sechs, wenn die Grenze jeweils für zwei Stunden für die Pendler und Lastwagen geöffnet ist. Ansonsten ist das hier eine Sackgasse geworden. Ab und zu schlängelt sich ein Transporter oder auch mal eine Limousine über den Radweg durch den Wald. Der Zugverkehr ist eingestellt. Es herrscht Ruhe.
„Wir leben hier wie auf einer Insel“, sagt Andreas Cellbrot, früher 20 Jahre lang Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, seit 2003 Künstler in Griesen an der Neidernach. Er wohnt mit Sabina Cellbrot, deren Namen er bei der Heirat angenommen hat, in dem alten Forsthaus. Wo früher die Amtsstube war, haben die beiden die Küche eingerichtet, wo der Förster einen Garten hatte, hat Andreas Cellbrot eine sibirische Schwitzhütte und einen hölzernen Raum in Form einer Jurte gebaut.
Seine Frau gibt dort Seminare. In der ersten Woche seit der Ausgangsbeschränkung am 22. März hatte er endlich die Zeit gefunden, um den Totempfahl aus Lärchenholz fertig zu schnitzen und aufzustellen, erzählt Cellbrot. In seiner Werkstatt baumelt ein geblümter Sessel an Seilen von der Decke. „Mein Swingchair“, sagt er, setzt sich hinein, greift ein von einem Deckenbalken baumelndes Seil und schaukelt. „Hier kann man denken, abschalten, meditieren.“
„Kayruna Rainbow Village“ steht auf einem handgemalten Schild neben der Eingangstür. Als „Heilerhaus“ ist das rot gestrichene Gebäude in der Gegend bekannt. Sabina Cellbrot gibt Seminare, in denen sie die TeilnehmerInnen zum Fasten in den Wald schickt. Oder sie gehen hinten aus dem alten Förstergarten hinaus an die Neidernach und baden im eiskalten Wasser. Die Seminare bis Mai hat Cellbrot abgesagt, aber die würden nachgeholt. Sie sei ganz froh, dass ihr übervoller Kalender nun leer sei. Sie schreibt ein Buch über Selbstheilungskräfte und ist dank der Seminarpause fast fertig. „Ich empfinde Corona als Lehrer, aber nicht als Gefahr“, sagt Sabina Cellbrot. „Es geht darum, umzudenken, so wie Greta das uns das ganze Jahr über gesagt hat.“
Jetzt sind die Flüsse hören
Kiesel, Steine und vom Wasser geschliffene Baumstämme liegen im 200, 300 Meter breiten Bett der Neidernach, durch das der Fluss mäandert. Regnet es einen Tag lang, fließt das Wasser über die sonst trocken liegenden Sandbänke. Nach drei Tagen Regen rauscht der Fluss durch das ganze Tal. Von Tirol strömt die Loisach heran. Das Rauschen der beiden Wildflüsse dringt in den Ort. Seitdem keine Autos mehr fahren, hören die Griesener die Flüsse auch am Tag.
Auch im Landkreis Garmisch-Partenkirchen steigt die Zahl der mit dem Coronavirus Infizierten. Am Donnerstag letzter Woche waren es erst 60, am Sonntag dann 86 Menschen, an diesem Dienstag meldeten die Behörden schon 115 Infizierte. Im plötzlich so abgeschiedenen Griesen ist dagegen niemand infiziert oder erkrankt, soweit bekannt.
Deshalb helfen sich die Menschen jetzt gegenseitig. Wenn jemand in das 14 Kilometer entfernte Garmisch-Partenkirchen fährt, fragt er oder sie die Nachbarn, ob sie etwas benötigen, Ingwer, Toilettenpapier, einen Beutel Bio-Karotten, ein Buch. Die alte Frau Wagner wird ohnehin von ihrer Tochter im Haus gegenüber versorgt, um den alten Meier kümmert sich Katrin, aber das macht sie schon immer. Aus dem Haus ging Herr Meier schon vor Corona nicht. Ein Comic mit einem nackten Hintern hängt an seiner Wohnungstür und zeigt jedem, was er von ihnen hält.
Die beiden Mädchen aus den Nachbarhäusern fahren auf rosa Fahrrädern jetzt bis an den Fluss. Überhaupt schallt jetzt bei Sonnenschein das Rufen der Kinder vom Fluss. Sie bauen Skulpturen aus Steinen, schichten Treibholz, machen ihr Ding. Wer von den Älteren ein Mountainbike hat, saust die Forstwege herab.
Virus kommt doch in den Alltag
„Uns geht es hier deutlich besser als in Garmisch“, sagt Jutta Bauer (Name geändert). „Hier hat man einen Freiraum.“ Der kleine Garten vor der Küchentür, hinterm Haus der Wald. „Aber mir fehlt der persönliche Kontakt mit Freunden“, sagt Bauer zwischen Grill und Gartentisch auf der Terrasse.
Seit zwei Jahren wohnen sie und ihr Mann in Griesen, vor sieben Monaten hat Jutta Bauer ihren Sohn zur Welt gebracht. Sie ist Krankenschwester im Krankenhaus von Garmisch, ihr Mann ist Handwerker und wurde in Kurzarbeit geschickt. Bauer arbeitet in Teilzeit, weil sie ihre Elternzeit über zwei Jahre ausdehnen möchte. „Ein paar Wochen bekommen wir das hin“, sagt Bauer und meint das mit dem Geld.
Bauer sorgt sich vor allem, dass sie trotz aller Vorsicht das Virus nicht mit ins Haus bringt. Desinfektion, Abstandhalten, Schutzkleidung, das gehöre alles zum Beruf. Aber sie arbeite in der Geriatrie, da könne sie keinen Abstand zu den Alten halten. Und sie bedauert, dass ihr Kind nun ganz ohne Gleichaltrige aufwachsen muss. „Ich wollte mit meinem Sohn zum Babyschwimmen gehen und mich mit den Müttern aus der Schwangerengruppe treffen, damit die Kleinen miteinander tollen“, sagt Bauer, die Hände tief in den Taschen ihres Mantels. „Das hatte man sich alles anders vorgestellt.“
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