Dorf-Umsiedlung für Braunkohletagebau: Die Neuen mögen keinen Karneval
Für Garzweiler II ist das rheinische Dorf Immerath abgerissen worden. Nebenan steht das Plandorf „Immerath neu“. Ein Ortsbesuch.
Das alte Immerath wird aktuell für den Tagebau Garzweiler II abgerissen. Die ehemaligen Bewohner*innen sind seit 2006 teilweise in das neu entstandene Dorf umgesiedelt worden. „Die Siedlungsphase mitgemacht haben die Alteingesessenen. Die anderen sind weggezogen, zum Beispiel die Mieter. Andere hatten keinen Bezug zum Dorf und haben woanders gebaut. Wieder andere waren zu alt, um neu zu bauen. Sie haben sich von der Entschädigung von RWE lieber eine Wohnung in einem der bestehenden Orte gekauft“, erzählt Thiede, Vorsitzender des SV Immerath. Der 55-Jährige stammt aus Duisburg; 1997 zog er in das alte Immerath. Für ihn war schnell klar, dass er die Umsiedlung mitmacht.
Immerath neu befindet sich 10 Kilometer westlich vom alten Ort und der Grube. Eine Hauptstraße führt durch das Dorf, nah daran stehen die höheren Häuser, dahinter dann die flacheren. Damit sollte Immerath neu den rheinischen Dorfcharakter erhalten. Knapp 300 Gebäude zählt der Ort, etwa 1.000 Menschen leben hier.
Der Mittelpunkt des Dorfs ist der Marktplatz, auf den Jörg Thiede besonders stolz ist. Die Bewohner*innen haben ihn gestaltet. Thiede zeigt auf die drei Bronzeskulpturen hinter sich, die unter anderem die alte Mühle und den Immerather Dom zeigen. Beides Sehenswürdigkeiten des alten Immerath, die nicht umgesetzt werden konnten und abgerissen wurden.
Diese Skulpturen waren ein Wunsch der Dorfbewohner*innen, genau wie die Erhaltung der Infrastruktur. Selbst die alten Straßennamen wurden übernommen. Zur Unterscheidung wurde den Straßennamen das Wort „neu“ hinzugefügt. Zusätzlich gibt es in Immerath neu wieder einen Sportplatz, einen Kindergarten und einen Veranstaltungsraum. Der Kindergarten und der Veranstaltungsraum unterschreiten die Anforderungen an die Energiesparverordnung um 10 Prozent. Die beiden Gebäude sind mit einem Heizungssystem ausgestattet, das von einer Luft-Wärme-Pumpe und bei extremer Kälte von einer Gastherme versorgt wird. Die Lüftungsanlage funktioniert auch über Wärmerückgewinnung. Das alles ist mittlerweile weitgehend Stand der Technik, doch damals ging es weit über die geforderten Standards hinaus. Das war der Stadt Erkelenz, zu der Immerath gehört, wichtig: Diese Gebäude seien zwei ihrer Leuchtturmprojekte für den Klimaschutz.
Ein besonderer Wunsch der Bürger*innen war auch eine neue Kapelle, die schließlich 2015 mit einem Gottesdienst und einem Fest eingeweiht wurde. „Natürlich ist das Ambiente anders, zwischen all den Häusern, die zeitgleich hochgezogen wurden. Aber durch die Kapelle wird das Dorf immer mehr zur Heimat“, erzählt Werner Rombach, der als Pfarrer die Umsiedlung und den Bau der neuen Kapelle begleitet hat.
Sosehr sich Werner Rombach über die neue Kirche und das neue Leben innerhalb der Gemeinde freut, der Abriss des alten Doms hat geschmerzt: „Als ich bei der Baustelle war, lag alles in Schutt und Asche. Das war ein Schock. Ein Mann von außerhalb hat mich dann angesprochen und gemeint, warum wir das Dorf kampflos aufgegeben hätten. Dabei haben wir uns jahrelang gewehrt. Die Leute sollen da nichts Falsches denken.“
Werner Rombach, Pfarrer
Ein Anwohner von Immerath hatte Klage gegen die bevorstehende Umsiedlung eingereicht und sich durch alle Instanzen geklagt. Am Ende hat das Bundesverfassungsgericht die Klage endgültig abgewiesen. Das Recht auf Heimat sei durch die Umsiedlung nicht betroffen und das Gemeinwohl durch die Braunkohle stünde über das Eigenwohl. Pfarrer Rombach kann das nicht nachvollziehen: „Ist es nicht Allgemeinwohl, wenn es der Erde gut geht?“
Trotz der abgewiesenen Klage haben bis zum Schluss viele Menschen protestiert. Als die Kirche abgerissen wurde, waren etwa 300 Menschen bei einer Mahnwache vor Ort. Auch die Stadt Erkelenz hat versucht, sich gegen die Umsiedlungen zu wehren und viele Protestaktionen organisiert.
Bürgermeister Peter Jansen sitzt in seinem Büro, an der Wand eine Karte, auf dem Garzweiler eingetragen ist – ein großer brauner Fleck. „Als meine Amtszeit anfing, begannen die ersten Umsiedlungen in Erkelenz, wenn meine Amtszeit vorüber ist, werden die letzten Umsiedlungen abgeschlossen sein“, sagt er. Nach einem Beschluss von 2016 durch die damalige Landesregierung unter Hannelore Kraft wird Garzweiler II zwar nicht mehr erweitert. In den nächsten Jahren sollen trotzdem noch fünf weitere Orte umgesiedelt werden: Beverath, Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich. Alle gehören zur Stadt Erkelenz. Für Peter Jansen eine große Herausforderung; er fühlt sich alleingelassen von der Politik. Für die Bewohner*innen von Immerath hat er dagegen nur positive Worte: „Sie haben von Anfang konstruktiv mitgearbeitet, damit die Umsiedlung glatt über die Bühne geht.“
„Mit den Tatsachen arbeiten“
Trotz der Proteste haben sich viele Einwohner*innen schon früh um die Gestaltung des neuen Orts gekümmert, erzählt Jörg Thiede, lässt den Marktplatz hinter sich und geht Richtung Sportplatz: „Wir waren alle am Anfang gegen die Umsiedlungen, aber irgendwann muss man eben mit den Tatsachen arbeiten und weitermachen.“ Er klingt dabei keineswegs resigniert. Eine der wichtigsten Frage, die ihn umtrieb, waren die Vereine: „Es war klar, dass wir Mitglieder verlieren würden. Immerhin sind auch viele weggezogen. Wenn Mitglieder fehlen, fehlen uns auch Einnahmen durch Mitgliederbeiträge, aber auch von Besuchern.“
Mit den Ellenbogen auf einem Kissen schaut eine Frau aus ihrem offenen Fenster. Als Jörg Thiede sie entdeckt, grüßt er sie laut und bleibt unter ihrem Haus stehen. Beide unterhalten sich kurz über den aktuellen Schützenkönig und dessen Wahl, bevor Thiede weiterzieht.
Der Schützenverein, der Sportverein, dessen Vorsitzender Thiede ist, und der Karnevalverein schlossen sich vor der Umsiedlung zusammen und stimmten ihre Veranstaltungen aufeinander ab: „Die Feiern sind wichtig für unser Dorfleben. Man heiratet nach dem Schützenfest oder davor. Man fährt vor Karneval in den Urlaub oder danach.“ Am Sportplatz angelangt, zeigt er auf eine Baustelle, die einige hundert Meter entfernt liegt. Dort würden noch zwei Bauernhöfe entstehen, dann sei die Umsiedlung endgültig abgeschlossen.
Letztes Jahr haben die Neu-Immerather ihr neues Dorf gefeiert. Eine in der Gegend bekannte Queen-Coverband ist aufgetreten und viele neu Hinzugezogene waren gekommen, erzählt Jörg Thiede stolz, als er vom Sportplatz Richtung Ortsgrenze spaziert. Seit der Umsiedlung ziehen vermehrt junge Familien mit kleinen Kindern nach Immerath neu. Das liegt an der Lage des Orts: „Früher waren wir das letzte gallische Dorf im Kreis Heinsberg, nach uns kam ja nur noch die Grube. Jetzt grenzen wir direkt an Erkelenz. Das zieht die jungen Leute an.“ Er freue sich über die neuen Bewohner*innen; auch der Sportverein profitiert von den jungen Familien. Doch es sei ein wenig schwierig mit ihnen: „Karneval und Schützenvereine sind für Stadtmenschen, die wegen der Kinder herziehen, schwieriger nachzuvollziehen. Das müssen wir ihnen noch schmackhaft machen.“ Die Dorfbewohner*innen, die gemeinsam umgesiedelt sind, seien außerdem enger zusammengewachsen. Die Distanz zu den neu Hinzugezogenen sei teilweise aber noch groß. Diese zu überwinden ist sein Wunsch für die Zukunft.
Jörg Thiede bleibt an einer Ortstafel stehen – ein paar hundert Meter entfernt beginnt der Nachbarort. Er hoffe, dass wieder mehr Ruhe einkehrt in Immerath neu, sagt er. Mehr als zehn Jahre hat die Umsiedlung das Leben im Dorf bestimmt, jetzt wollen sie damit endgültig abschließen. Das „neu“ im Namen und auf den Schildern soll dann bald verschwinden. Dann gibt es nur ein Immerath.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland