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Dokumentartheater in BerlinIhre Tochter verlor sie im Meer

Die „Mittelmeer-Monologe“ bringen Geschichten von geretteten Geflüchteten auf die Bühne. Das Stück richtet sich nicht nur an die Politik.

Meri Koivisto als Selma, Sara Hiruth-Zewdi als Naomie, Soheil Boroumand als Joe (v. l. n. r.) Foto: Luca Abbiento

„Sie sollen nach Süden fahren. Da wartet ein italienisches Schiff“, antwortete das Rettungszentrum in Rom auf Selmas Anfrage. Doch als Yassin das hörte, erschrak er: „Wie nach Süden? Ich kann nicht zurück nach Libyen. Dort lande ich im Gefängnis. Versprich mir, dass wir nicht zurück nach Libyen geschickt werden!“ Versprechen konnte es Selma nicht. In Rom wollte man es ihr nicht versichern. Am Ende sagte sie doch: „Fahrt nach Süden“, und schob schnell hinterher: „Es gibt keine Garantie.“ Doch sie wusste, dass sie jetzt Verantwortung trug.

Selma und Yassin, von Schauspielern verkörpert, stehen nun zusammen auf einer kargen Bühne. Sie ist Aktivistin von Alarm Phone, einer Hotline für Menschen, die das Mittelmeer überqueren. Diese Nummer wählte Yassin, als er während der Überfahrt wegen Panik und Erschöpfung nicht mehr weiterwusste. Am Ende fuhr er nach Süden und schaffte es nach Europa. Die beiden sind zusammen mit Naomie aus Kamerun und dem Sea-Watch-Aktivisten Joe die Protagonisten der „Mittelmeer-Monologe“ im Heimathafen Neukölln.

Die Menschen auf der Bühne sind Schauspieler*innen, doch das Erzählte ist wahr. Bevor er sich für vier Protagonist*innen entschied, hat Regisseur Michael Ruf mit rund 40 Personen mehrstündige Interviews geführt, darunter Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um übers Mittelmeer Europa zu erreichen, und Aktivist*innen, die sich täglich einsetzen, um deren Leben zu retten.

„Das Material wurde verkürzt, aber nichts ist erfunden“, sagt der Regisseur und künstlerische Leiter der Bühne für Menschenrechte zu Beginn der Uraufführung. Dokumentarisches Theater nennt er sein Konzept, mit dem er schon „Die Asyl-Monologe“, „Die Asyl-Dialoge“ und „Die NSU-Monologe“ erfolgreich inszeniert hat.

Die Betroffenen in den Mittelpunkt stellen

Naomie (Sara Hiruth-Zewdi), Yassin (Aydın Işık), Selma (Meri Koivisto) und Joe (Soheil Boroumand) wechseln sich beim Erzählen ab. Anfangs scheinen sich die vier Monologe aneinander vorbei zu entfalten. Doch allmählich verweben sie sich miteinander wie die Existenzen der Protagonist*innen, die auf dem Mittelmeer zusammenkommen.

Zum Beispiel bei einem tragischen Vorfall am 6. November 2017: Damals hinderte ein Rettungsschiff der libyschen Küstenwache, mit der die EU bis heute kooperiert, die „Sea-Watch 3“ bei den Rettungsoperationen eines sinkenden Schlauchboots mit 150 Passagieren. Dadurch ertranken mindestens 20 Menschen. Auf jenem Schlauchboot war auch Naomie. Sie wurde gerettet, doch sie verlor ihre Tochter in den hohen Wellen. „Es gibt nichts zu beschönigen“, sagt Joe, der an jenem Tag als Retter im Einsatz war: „Ein Kind liegt in der Tiefkühltruhe.“

Frontal zum Publikum erzählen die Protagonist*innen nicht nur von der riskanten Überfahrt, sondern auch von der Zeit davor und danach. Von den einstigen Träumen und Freuden, die Traumata gewichen sind, von den verzweifelten Versuchen, sich in dem als fortschrittlich geglaubten Europa gegen die Deportation zu wehren, sowie von der Hilflosigkeit und den Schuldgefühlen, mit denen Retter*innen leben müssen.

„Die Mittelmeer-Monologe“ richten den Fokus weg von den Zahlen und Maßnahmen, auf die das Geschehen auf dem Mittelmeer gerne reduziert wird. In den Mittelpunkt stellen sie die Geschichten der Betroffenen und die Forderung nach der Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Somit widersetzen sie sich der Entmenschlichung der Tragödie, die sich tagtäglich an der europäischen Außengrenze ereignet.

Die Monologe berühren, schaffen Nähe, machen wütend und benennen vor allem Wege, um sich persönlich zu engagieren. Aufgezeigt werden diese im anschließenden Publikumsgespräch, das fest zum Konzept gehört. So richtet sich der Appell des Stücks nicht nur an die Politik, sondern an alle, die im Saal sitzen.

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Somit widersetzen sie sich der Entmenschlichung der Tragödie, die sich tagtäglich an der europäischen Außengrenze ereignet. […] Die Monologe berühren, schaffen Nähe, machen wütend und benennen vor allem Wege, um sich persönlich zu engagieren. […] So richtet sich der Appell des Stücks nicht nur an die Politik, sondern an alle, die im Saal sitzen.“

    Theater in Bestform, will mir scheinen. Theater, dem man seine Herkunft anmerkt, das aber über sie hinauswächst.

    Ursprünglich war der dramatische Dialog auf die Bühne beschränkt. Die Dramatiker haben quasi vorgedacht, was anlässlich diverser Tragödien zu denken war, und die Schauspieler haben die Gedanken der Dramatiker ausgesprochen. Die Zuschauer brauchten ihnen bloß noch zu folgen. Heute sind die Ansprüche – zumindest bestenfalls – andere. Völlig zu recht. Wir sind ja keine Alten Griechen mehr. Der Dialog findet heute im Kopf der Zuschauer statt, der sich selbst einen Reim machen muss auf das Erlebte. Manchmal aber wird der Dialog sogar aus dem Kopf in die materielle Realität geholt. Dann, wenn – wie in diesem Fall – nach dem Stück noch geredet wird. Dann bleibt womöglich nicht nur das Schicksal im Gedächtnis, sondern auch eine Möglichkeit, dem (fremden) Schicksal eigenhändig etwas von seiner Schicksalhaftigkeit und seinem Schrecken zu nehmen.

    Einige mögen nun wieder sagen: Dieses Theaterstück erreicht nur Leute, die sowieso sensibilisiert sind. Aber ist das denn schlimm? Wichtig ist doch, dass aus einer Sensibilität eine Handlung wird. Und überhaupt: Wenn „die Politiker“ nicht tun, was sie tun müssten, können sie einfach abgewählt werden heutzutage. Auch dafür braucht es Motivation. Und wenn aus dem Theater in die Welt hinaus getragen wird, ist das viel mehr als nichts. Dann hätte das Theater endlich wieder so etwas wie eine Relevanz, die über das hinausgeht, was die Herrscher wollen (Friedhofsruhe via Brot und Spiele).