: Stets die Würde bewahrt
Der Regisseur Giuseppe Tornatore setzt dem Komponisten Ennio Morricone mit einem material- wie lehrreichen Dokumentarfilm ein Denkmal
Von Tim Caspar Boehme
Er ist der größte Filmkomponist. Bis heute kann man das mit einigem Anspruch vertreten. Unter den vielen Meistern der Zunft war Ennio Morricone der innovativste und universalste. Er konnte genauso treffsicher zuvor unübliche Arrangements zu Szenen ersinnen wie komplexe und zugleich eingängige Melodien, die sich im Gedächtnis festsetzen. Zu Lebzeiten hatte er Popstarstatus. Was bei seiner introvertierten Erscheinung umso mehr erstaunt.
Ungeachtet der über 500 Filme, die er vertonte, war er, was seine Person anbelangt, sehr zurückhaltend. Jetzt erscheint, zwei Jahre nach Morricones Tod, ein Dokumentarfilm, der allein ihm gewidmet ist. Erstellt vom Regisseur Giuseppe Tornatore, ein Italiener wie der Porträtierte selbst. Aus dem Off ist zu Beginn von „Ennio Morricone – Der Maestro“ das Ticken eines Metronoms zu vernehmen, bevor dieses im Bild erscheint. Ein ordnungsstiftendes Instrument zum Festlegen und Beibehalten des Tempos. Dann sieht man den betagten Titelhelden selbst, wie er durch den Salon seiner repräsentativen Wohnung gegenüber dem Kapitolsplatz von Rom joggt, sich auf einen Teppich legt und Gymnastik macht. Dazwischen geschnitten sind die Gesichter von Regisseuren, Musikern und Schauspielern, die in Einzeilern ihre Anerkennung gegenüber Morricone zum Ausdruck bringen.
Der Tonfall des Films ist damit gesetzt. Tornatore zeichnet einerseits die Stationen der Karriere Morricones nach, andererseits lässt er diese von zahlreichen Wegbegleitern und Kollegen kommentieren. Szenen aus Filmen, an denen Morricone mitgewirkt hat oder mitwirken sollte, sind ebenfalls ausgiebig zu sehen.
Dieses Material bietet Einblicke in die Entstehungsprozesse von Filmen. Für Elio Petris „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“ von 1970 wählte Morricone eine rhythmisch stark akzentuierte Musik mit Cembalo und Maultrommel. Er erinnert sich bei Tornatore jedoch daran, dass in einer Vorabvorführung die Szene, zu der die Musik gedacht war, mit einem Stück von ihm unterlegt war, das er zu einem anderen Film geschrieben hatte. Als Morricone protestierte, soll Petri sich bei ihm entschuldigt haben. Man sieht die Szene zunächst in Schwarz-Weiß mit der anfangs von Petri favorisierten Musik, danach, in Farbe, mit der entschieden besser geeigneten, die Morricone für sie komponiert hatte.
Die Anekdote veranschaulicht Morricones Fähigkeit, sich in Szenen hineinzudenken und seine Musik so einzusetzen, dass sie den Film stärker wirken ließ. Aufdringliche tönende Selbstdarstellung oder beliebige Hintergrundkulissen waren seine Sache nicht. Weshalb er bei Pier Paolo Pasolini etwa darauf bestand, den Film „Große Vögel, kleine Vögel“ (1966) vollständig selbst zu vertonen und nicht an einigen Stellen stattdessen Bach zu verwenden. Pasolini ließ ihn machen.
Interessant ist zudem der Werdegang Morricones, wie er aus dessen Sicht und der seiner Wegbegleiter geschildert wird. Morricone erwähnt, dass er eigentlich Arzt werden wollte. Sein Vater, ein Trompeter, sah hingegen denselben Beruf für ihn vor. Als Trompeter spielte er in der Nachkriegszeit zum Teil für Essen, was er als erniedrigend empfand. Und selbst als sich sein Talent als Arrangeur herumgesprochen hatte und er Komposition am Konservatorium von Rom studierte, fühlte er sich in dieser elitären Umgebung minderwertig. Trompeter wurden damals keine Komponisten, so sein Resümee. Seine ersten Filmmusiken, vor allem die zu Italo-Western, für die er so gefeiert wird, schrieb er unter Pseudonym, aus Angst, seine Komponistenkollegen könnten davon erfahren.
Der Zwiespalt zwischen Gebrauchsmusik und „absoluter“ Musik begleitete ihn fortan. Parallel zu den Auftragsarbeiten fürs Kino, die er mit hoher Geschwindigkeit erledigte, blieb er „seriöser“ Komponist, war Mitglied der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, dem ersten improvisierenden Kollektiv von Komponisten. Und die beiden Welten blieben nicht streng getrennt. Mit der „Nuova Consonanza“ entstand zum Teil Filmmusik, wie Morricone überhaupt jede Menge Musikgeschichte auf höchstem Niveau in seiner Auftragsmusik verarbeitete. Was den „richtigen“ Komponisten spätestens bei Morricones Soundtrack zu Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ von 1984 auffiel.
Eine feine Ironie ist, dass von Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), der Erkennungsmelodie Morricones schlechthin, allein der Anfang berücksichtigt ist. Da erklingen lediglich Geräusche wie ein Morsegerät, Wassertropfen und Zugrattern. „20 Minuten musique concrète“, nennt der Komponist Alessandro De Rosa die Innovation Morricones. Was der Film weniger gut löst, ist der Einsatz von sprechenden Köpfen. Diese sagen nicht immer Notwendiges. Manches ist verplaudert, vieles erschlägt einen mit dem stetigen Betonen von Morricones Ausnahmestatus. Das wird eigentlich so schon deutlich. Und wenn es um Morricones Beitrag zu Tornatores Film „Cinema Paradiso“ (1988) geht, setzt sich der Regisseur sogar vor die Kamera, als wäre er sein eigener Gesprächspartner. Am Ende ist es etwas viel der Hagiografie. Ein so großer Musiker wie Morricone hätte Besseres verdient.
„Ennio Morricone“. Regie: Giuseppe Tornatore. Italien 2021, 156 Min.
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