Dokumentarfilm „Displaced“: Privileg des Vergessens
Welchen Einfluss hat die Shoa auf die Enkel der Überlebenden? Regisseurin Ryba-Kahn geht dieser Frage anhand ihrer Familiengeschichte nach.
Konnten oder wollten die Überlebenden der Shoa oft nicht selbst über ihre Erlebnisse sprechen, verbargen sie ihre Traumata und Verletzungen vor ihren Kindern, waren es genau diese, die zweite Generation nach der Shoa, die im Genre des Dokumentarfilms ihre Eltern als Zeitzeugen zu Wort kommen ließen. Nun, da die Überlebenden nach und nach sterben, stellt sich die nachfolgende Enkelgeneration, also die dritte Generation, die Frage, welche Form der Erinnerung sie im Doku-Film ohne die Zeitzeug:innen finden können. Und wie die Erfahrung ihrer Großeltern sie prägte. Der Dokumentarfilm „Displaced – verschoben, verdrängt, vertrieben“ der jüdischen Regisseurin Sharon Ryba-Kahn greift diese Fragen auf. Es ist Ryba-Kahns Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Ihr zweiter Dokumentarfilm, der derzeit im ZDF zu sehen ist.
Anhand ihrer komplizierten Beziehung zu ihrem Vater erzählt sie prozesshaft welche Themen, Gefühle und Fragen sie als Enkelkind begleiten. Der Vater, 1947 in München geboren, wuchs als Sohn des Auschwitz-Überlebenden Chaim Ryba auf. Die Vater-Sohn-Beziehung beschreibt er im Gespräch mit seiner Tochter so: „Wie er war und wie er ist, das muss man akzeptieren. Man darf einfach nicht zu viel erwarten. Ich darf ihm nichts vorwerfen. Wer die Shoa erlebt hat, dem darf man nichts vorwerfen. Im Gegenteil.“
„Displaced – verschoben, verdrängt, vertrieben“, in der ZDF-Mediathek.
Diese Erläuterung ist ein erster Anknüpfungspunkt, um zu verstehen, warum es für den Vater schwierig zu sein scheint, Nähe zu seiner Tochter herzustellen. Das eigene Erleben mit seinem Vater hat in Sharon Ryba-Kahns Vater wiederum zu einer gewissen Unfähigkeit geführt, über die Vergangenheit zu sprechen. Auch aus diesem Grund hatten Vater und Tochter über Jahre keinen Kontakt. Erst durch die Realisation des Dokumentarfilms baut sich dieser langsam wieder auf.
Verbindungspunkt Deutschland
Sharon Ryba-Kahn konfrontiert ihren Vater mit Fragen. Diese Gespräche haben eine befreiende Schwere. Die Regisseurin hält in ihren Aufnahmen, in denen sie die Kamera direkt auf den Vater richtet, fest, wie dieser innerlich mit sich kämpft, Dinge zum ersten Mal auszusprechen und mit seiner Tochter zu teilen. Es gelingt ihr im Laufe des Films die Distanziertheit, die ihr Vater ausstrahlt und die wie eine dicke, über Jahre aufgebaute Mauer wirkt, langsam und mühsam, ein Stück weit abzubauen und sich so ihrem Vater anzunähern. Es gehe ihr um das Verstehen, um das Warum, erklärt die Regisseurin ihrem Vater im Film. Nach und nach lässt sich nachvollziehen, wie die Shoa über Familiengenerationen nachwirkt.
Der Verbindungspunkt zwischen allem sei Deutschland, hört man Ryba-Kahn an einer Stelle aus dem Off sagen. Deutschland ist das Land, das ihr Vater verließ, um nach Israel zu gehen, weil er nicht mehr aushielt, in einem Land zu leben, das seinem Vater Auschwitz angetan hat. Er gab auch aus diesem Grund 2017 seinen deutschen Pass ab. Die Heimatlosigkeit, die der Vater dadurch empfindet, hat er an seine Tochter weitergegeben.
Deutschland ist auch für die Regisseurin ein Land, mit dem sie hadert. Dass sie allen Grund dafür hat, wird in weiteren Gesprächen deutlich, die sie führt. Denn Ryba-Kahn befragt nicht nur den eigenen Vater, sondern auch die Außenwelt, die anderen, also: die Nachfahren der Täter.
„Für mich hat die Tatsache, dass du Jüdin bist, nie eine Rolle gespielt“, offenbart eine alte Schulfreundin der Regisseurin und verrät sich damit selbst. Wenn es eine Rolle gespielt hätte, so hätte sie selbst sich mit ihrer Familiengeschichte auseinander setzen müssen. Sie hätte sich damit konfrontieren müssen, Nachfahrin von Tätern zu sein.
Es folgen weitere Gespräche mit noch anderen deutschen Freundinnen. All diese Aufnahmen zeigen eindrücklich, wie stark die Verdrängung in der dritten Generation der Täternachfahren vorherrscht. Das Privileg, die Vergangenheit zu verdrängen, haben Jüdinnen und Juden nicht.
„Ich habe nie den Mut aufgebracht, deutschen Freunden zu sagen: ‚Es schmerzt mich, dass du nicht wahrhaben willst, dass deine Familie meine Familie umgebracht haben könnte‘“, hört man Sharon Ryba-Kahn am Ende ihres Films erneut aus dem Off sagen.
Zuletzt richtet sie die Kamera auf den Rückspiegel ihres fahrenden Autos. Sharon Ryba-Kahn schaut zurück und zwingt die Zuschauer:innen, ja, vor allem die deutschen unter ihnen, sich selbst in den Fokus zu rücken. Nicht mehr, wie so oft, auf die Jüdin zu blicken, sondern jetzt auf sich selbst.
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