Dokufilm über Roma im Holocaust: Leben spiegeln
Der Dokufilm „Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit“ nähert sich dem Holocaust aus der Perspektive von Sinti und Roma.
Über den Holocaust sind bereits viele gewaltige Dokumentarfilme gemacht worden, die dessen Geschichte nacherzählt, analysiert, dargestellt, in Erinnerung gebracht haben. „Contemporary Past“ versucht einmal einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte, indem sich dieser Film der Gedenkstätten annimmt, die an das Vergangene erinnern, und sich die Frage nach dem Kontinuum stellt, das die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet und verbinden kann.
Regisseur Kamil Majchrzak nähert sich diesem Thema durch drei Erzählstränge: zum einen begleitet er Jugendliche aus Polen, Rumänien und Deutschland, die gemeinsam einige Wochen in der Gedenkstätte Buchenwald verbringen und sich dort mit deren Geschichte beschäftigen, zum anderen gibt es längere Interviewpassagen mit Rita Prigmore, die in der Universitätsklinik Würzburg geboren wurde und an der experimentelle Operationen vorgenommen wurden. In einem dritten Erzählstrang widmet sich Majchrzak von Verfolgung betroffenen Sinti und Roma, die ihre jeweilige Heimat verlassen und in Deutschland Asyl beantragen mussten.
Die Jugendlichen haben unterschiedlichste Motive, überhaupt an dieser Reise teilzunehmen, nur wenige davon sind politischer Natur. Für sie ist die Reise ins KZ auch ein Urlaub, auf dem sie Sightseeing-Ausflüge machen und eine gute Zeit haben wollen. Zentral sind im Film allerdings die Reifungsprozesse dieser Jugendlichen abgebildet, die sich im Lager damit beschäftigen, weshalb überhaupt und wie systematisch Menschen eingesperrt und ermordet worden sind. Das ist anhand von reinen Tabellen und Statistiken nicht machbar, sondern es müssen Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gebaut werden.
Jahrzehntelanger Kampf um Anerkennung
In „Contemporary Past“ knüpft an diese Perspektive Rita Prigmore an, die von ihrem Leben erzählt, der Ausmerzung ihrer Familie, dem Tod ihrer Zwillingsschwester durch medizinische Versuche und dem nachfolgenden, jahrzehntelangen Kampf um Anerkennung als Opfer des NS-Staats. Es wirkt, als hätte die Ausgrenzung der „Zigeuner“ nach 1945 nie aufgehört.
„Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit“. Regie: Kamil Majchrzak. Deutschland 2019, 59 Minuten.
Schließlich stellt der Film auch die Brücke zu Sinti und Roma der Gegenwart her, die derzeit in Deutschland leben, weil sie ihre europäischen Heimatorte verlassen mussten, an denen sie von staatlicher Seite strukturell verfolgt, diskriminiert und entrechtet wurden. Doch ist es für sie schwer, politisches Asyl zu erhalten, allein wenn man einer ethnischen Minderheit angehört.
Trotz des bedrückenden Themas halten sich Düsternis und Bedrohlichkeit im Film in Grenzen. Besonders anhand der Jugendlichen schildert „Contemporary Past“, wie Dokumente der Vergangenheit neue Perspektiven auf das eigene Leben ermöglichen: Die Jugendlichen müssen sich im Lager als Archäologen betätigen, die Artefakte in einen ausstellungsfähigen Zustand versetzen. Dabei wird die Scherbe eines zerbrochenen Keramikbechers entdeckt, in die ein Name geritzt wurde. Tatsächlich gibt es zu diesem eine Karteikarte mit Foto.
Skizze eines ausgelöschten Lebens
Fragmenthaft entsteht so die Skizze eines Lebens vor ihren Augen, das willkürlich in der Ermordung in einem Konzentrationslager ausgelöscht wurde. Darüber gelingt es ihnen, ihre eigenen Leben mit denen der ansonsten namenlosen Toten zu spiegeln und Zusammenhänge zu sehen, die ihnen sonst verschlossen blieben.
Und wie es der Zufall will, erscheint dieser Film zu einem Zeitpunkt, an dem das Denkmal für Sinti und Roma am Brandenburger Tor in Berlin zur Disposition steht, weil es einem S-Bahn-Bau im Weg ist. Jahrzehntelang wurde darum gerungen, bis es schließlich vor acht Jahren gebaut werden konnte. Und nun soll es, zumindest für einige Jahre, abgerissen werden. Von diesen Planungen erfuhren die Betroffenen erst aus den Zeitungen, sie waren weder involviert noch überhaupt kontaktiert worden.
„Contemporary Past“ zeigt auf, dass Diskriminierung kein zeittypisches Thema ist, sondern eine Struktur, ein Denken und eine mentale Kultur, die sich unentwegt fortsetzt und nie eine Ende findet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten