Dokudrama „Winterreise“: Bohrende Fragen
Der jüdische Flötist Günther Goldschmidt lebte zur Nazi-Zeit in Oldenburg. Seine Geschichte erzählt der Film „Winterreise“ mit Bruno Ganz.
Es ist eine hervorragende, eine würdige Abschiedsvorstellung. Dabei spielt Bruno Ganz in seinem letzten Kinofilm einen Jedermann: einen alten jüdischen Musiker, der in den USA lebt und von seinem Sohn nach seiner Vergangenheit befragt wird.
Meist sitzt er nur an einem Tisch in Tucson, Arizona und erzählt. In einigen Szenen sieht man ihn beim Autofahren oder in seinem Garten. Es soll wie ein Homemovie wirken, kunstlos vor vielen Jahren mit einer VHS-Videokamera vom Sohn gedreht, den man dann auch nie zu sehen bekommt. Man hört nur seine bohrenden Fragen.
Und Bruno Ganz wird vor unseren Augen zu diesem Mann, der am Ende seines Lebens vor seinem Sohn Rechenschaft ablegt. Zuerst nur widerwillig, denn das Thema wurde in der Familie immer totgeschwiegen. Er und seine Familie heißen Goldsmith und sein Sohn muss ihn erinnern: „Vater, du heißt Günther Goldschmidt, du bist so jüdisch wie Gefilte Fisch.“ „Ich bin kein Fisch!“, antwortet der Vater.
Diese Gespräche hat es, wenn nicht wörtlich, so doch sinngemäß, wirklich gegeben. Martin Goldsmith, ein in den USA sehr bekannter Radiomoderator, hat sie kurz vor dessen Tod mit seinem Vater geführt und darüber ein Buch geschrieben. „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches“ heißt es auf Deutsch, der amerikanische Titel spricht historisch angemessener von „Nazi-Germany“. Goldsmith ist es dann auch, der aus dem Off die Fragen an Bruno Ganz in der Rolle seines Vaters stellt.
Zuerst war es dessen deutscher Akzent, der Goldsmith und den Regisseur Anders Østergaard dazu bewogen hatten, Ganz die Rolle anzubieten. Obwohl Ganz Goldsmith nie Fragen nach seinem Vater stellte und bei der Entwicklung seiner Rolle nur vom Text ausging, gab es viele Szenen, in denen Goldsmith fast seinen Vater vor sich zu sehen glaubte.
Bruno Ganz’ Sequenzen geraten nie zu Starauftritten, die das Thema in den Hintergrund drängen könnten. Denn von den Szenen zwischen Vater und Sohn weitet sich der Film schnell zum Panoramablick auf die Lebensgeschichte des jüdischen Flötisten Günther Goldschmidt, der mit seiner Frau noch lange nach der Machtübernahme in Deutschland blieb, weil beide Arbeit im „Kulturbund deutscher Juden“ fanden. Dieser organisierte bis 1941 Konzerte, Theateraufführungen und Varieté-Abende mit jüdischen Künstler*innen. Dabei wurde er von der Propaganda genutzt, um im Ausland zu belegen, wie gut es den Juden im Hitlerdeutschland gehen würde.
Dieses weithin unbekannte Kapitel des jüdischen Lebens im Dritten Reich wollte Anders Østergaard in seinem Film darstellen, und da es den Kern der Künstlerkarriere von Günther Goldschmidt bildet, konnte er in seinem Film perfekt dessen Biografie mit der widersprüchlichen Geschichte des Jüdischen Kulturbunds verbinden.
Günter Goldschmidt wuchs als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns im niedersächsischen Oldenburg auf, und in seinen ersten Erinnerungen spielen die schöne Wohnung in der Gartenstraße 34 sowie die Spaziergänge mit seinen Geschwistern im Oldenburger Schlossgarten eine große Rolle. Diese Sequenzen wurden für den Film nachinszeniert.
Allerdings nicht in Oldenburg, weil Martin Goldsmith der Meinung ist, die Stadt habe das Andenken seines Vaters verraten. Denn in Oldenburg war im November 2013 eine Gedenktafel für die 167 örtlichen Opfer der Shoah errichtet worden. Darauf sind deren Namen aber nur mit den „Judenhäusern“ verbunden, in denen sie nach Enteignung und Vermietungsverbot vor der Deportation interniert waren. Damit werde seiner Familie ihr Haus ein zweites Mal genommen, so empfindet Goldsmith diese Gedenkpraxis. Er weigert sich daher, die Stadt noch einmal zu besuchen. Østergaard respektierte die Entscheidung, kaschierte sie aber so geschickt, dass viele Einheimische bei der Premiere des Films am 9. September im Staatstheater überzeugt waren, Aufnahmen Oldenburgs zu sehen.
Der dänische Regisseur vermischt auch sonst sehr subtil Fakt und Fiktion, Dokumentar- und Spielfilmelemente. Goldschmidts Erinnerungen an seine Jugend in Deutschland illustriert er nur selten mit gängigen historischen Filmaufnahmen aus den Archiven. Stattdessen arbeitet er mit Fotos aus der Zeit, in die er eigene Aufnahmen einfügt, bei denen der Schauspieler Harvey Friedman Goldschmidt in jüngeren Jahren verkörpert. Diese Schwarzweißaufnahmen drehte Kameramann Henner Besuch mit der Filmtechnologie der Zeit, in der die Fotos entstanden sind, also mit nachgebauten Kameras und Filmmaterial, sodass sie wie historische Aufnahmen wirken. In einer von ihnen hat der jüdische Schweizer Filmemacher Dani Levy einen kurzen, aber entscheidenden Auftritt als Goldschmidts Vermieter.
Østergaards Inszenierung von Goldschmidts Erinnerungen wirkt zwar stets lebendig, gleitet aber nie ins Illusionskino ab. Stattdessen erweist sie sich als Paradebeispiel für die erfolgreiche Anwendung des guten alten Verfremdungseffektes von Berthold Brecht: Das Publikum soll zwar auch fühlen, vor allem aber denken.
„Winterreise“ Regie: Anders Østergaard und Erzsébet Rácz. Mit Bruno Ganz, Dani Levy u. a. D/DK 2019, 88 Min. engl. OmU
Günther Goldschmidt lernte im Orchester des jüdischen Kulturbunds die spätere Mutter von Martin Goldsmith kennen. Und weil das Paar in einem guten Orchester die Musik spielen konnte, die es liebte, blieb es so lange wie möglich in Deutschland, sodass sie zu den letzten Juden gehörten, die 1941 noch legal ausreisen durften.
In den USA arbeitete Goldschmidt dann nicht als Musiker, sondern wurde zum Geschäftsmann. In einer erschütternden Szene des Films wirft Goldsmith seinem Vater vor, mit dieser ihm selber so verhassten Arbeit sein eigenes Leben verschwendet und die Atmosphäre in ihrer Familie vergiftet zu haben.
Als Antwort darauf zeigt der alte Goldschmidt seinem Sohn die Briefe, die seine in Deutschland gebliebenen Verwandten ihm geschrieben haben, bis keine Briefe mehr kamen, weil sie alle von den Nazis umgebracht wurden: Theodor W. Adorno hat in seinem berühmten Satz von Gedichten gesprochen, aber für einige wäre es auch barbarisch gewesen, nach Auschwitz wieder Musik zu machen.
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