Doku „Coming out“: Moment der Wahrheit
Eine Arte-Doku fängt mit einer eindrucksvollen Videomontage Reaktionen ein, die queere Menschen heute auf ihr Coming-out erleben.
Man könnte meinen, dass das Coming-out heute zumindest in liberalen Gesellschaften eine untergeordnete Rolle spielen würde. Wie eine vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie des Deutschen Jugendinstituts herausfand, sind die Ängste, die Jugendliche vor einem Coming-out quälen, aber weiterhin enorm: Rund drei Viertel der Befragten gab an, sich vor einer Ausgrenzung durch Freund*innen zu fürchten, fast genauso viele besorgte eine Ablehnung durch Familienmitglieder.
Die Arte-Dokumentation „Coming out“ von Dennis Parrot gibt diesen Ängsten nicht nur ein Gesicht, sondern belegt leider, dass sie in vielen Fällen begründet sind. In der eindrucksvollen Videomontage werden Aufnahmen zusammengefasst, die junge queere Menschen zwischen 2012 und 2018 von ihrem „Moment der Wahrheit“ tätigten und ins Netz stellten. Ohne weitere Kommentierung – vor den kurzen Filmen wird lediglich der Vorname der gezeigten Person und ihr Wohnort eingeblendet – bildet sie ein breites Spektrum an Reaktionen auf ganz unterschiedliche Coming-outs ab.
Da ist zum Beispiel Jesi aus Kapstadt, die sich dabei filmt, wie sie ihre Mutter anruft, um ihr zu sagen, dass sie lesbisch ist. Sie zögert lange, bis ihr die Worte über die Lippen gehen, reibt sich nervös das Gesicht. Die Antwort der Mutter folgt nach einem bedrückend langen Augenblick: Sie fragt zuerst, ob sie richtig gehört habe und betont, dass sie doch „voll und ganz Mädchen“ und Homosexualität außerdem eine Wahl sei. Jesi weint, versucht ihre Mutter davon zu überzeugen, dass dem nicht so ist. Dann meldet ihr Handy, dass ihr Guthaben nur noch für eine weitere Gesprächsminute reicht. Die Mutter hakt nach, ob sie sie zurückrufen soll und scheint erleichtert, als ihre Tochter hörbar unglücklich verneint.
Unbefriedigend verlaufende Coming-outs wie diese gibt es viele in der knapp einstündigen Dokumentation. Vielfach zweifeln die Eltern die sexuelle Orientierung ihrer Kinder an oder beteuern, dass sie die Queerness ihrer Söhne und Töchter zwar akzeptierten, dass sie aber „etwas Schlechtes“ oder gar „Sündhaftes“ sei. In einigen der 19 Videos sind die Reaktionen noch dramatischer: Sie reichen von offener Ablehnung und Beschimpfungen bis hin zu Gewalt.
Keine Generationensache
Der einzige Film aus Deutschland – der Großteil wurde in den USA aufgenommen – erzählt von einem inneren Coming-out, also dem Prozess des Bewusstwerdens über die eigene sexuelle Orientierung. Lino aus Bayern berichtet von seinem Weg hin zu der Erkenntnis, dass er trans ist: Bereits im Kindergarten war er verstört, wenn Erzieher*innen seinen kindlichen Berufswunsch korrigierten: Er könne höchstens eine Ritterin sein, ganz bestimmt kein Ritter. Er erzählt vom Gefühl, nirgendwo so richtig dazuzugehören und der Erleichterung, die er im Alter von 12 Jahren verspürte, als ihm klar wurde, worin es begründet liegt. Andere wiederum berichten von turbulenten inneren Coming-outs, von Selbsthass, Selbstverletzung und Schlimmerem.
Parrot verpasst es jedoch nicht, seinem Film eine hoffnungsspendende Note zu verleihen. Zwischen all den gezeigten unerfreulichen Erfahrungen befinden sich immer wieder mutmachende Gespräche: Es gibt sie, die Mütter und Väter, die sich oftmals schon vor dem Coming-out über die sexuelle Orientierung ihrer Kinder im Klaren sind und in dem Moment, in dem sie sich ihnen offenbaren, versichern, dass es für sie keinen Unterschied macht.
„Coming out“, Montag, 23.25 Uhr auf Arte und in der Mediathek
Das letzte Video zeigt das Coming-out von Loren aus Kingston in Kanada gegenüber ihrer Oma. Deren überaus herzliche Reaktion unterstreicht, dass Akzeptanz eben nicht zwangsweise eine Generationenangelegenheit ist – sondern im Gegensatz zu Homosexualität sehr wohl eine Entscheidungssache.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin