Dokfilmfestival Amsterdam: Kino als Mittel des Überlebens
Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam, kurz IDFA, war vom Krieg in Nahost überschattet. Über die Filme wurde nur selten gesprochen.
Das Politische, aber auch die ganz handfeste Tagespolitik sind seit jeher nicht wegzudenken aus dem Dokumentarfilm, und so ist es kein Wunder, dass das größte Dokumentarfilmfestival der Welt stets als besonders politische Veranstaltung bekannt war.
Doch in diesem Jahr war das International Documentary Film Festival Amsterdam, kurz IDFA, das am Sonntag nach elf Tagen zu Ende ging, deutlich stärker vom aktuellen Weltgeschehen gezeichnet als sonst. Was in aufgeheizten Zeiten wie diesen vermutlich kaum als Überraschung durchgeht.
Bereits am Eröffnungsabend stürmte ein kleines Aktivist*innen-Grüppchen die Bühne, in den Händen ein Banner mit dem israelfeindlichen (und in Deutschland inzwischen verbotenen) Spruch „From the river to the sea, Palestine will be free“, um lautstark einen Waffenstillstand im Nahen Osten zu fordern. Die Situation im Königlichen Theater Carré war relativ schnell wieder aufgelöst, doch weil es aussah, als habe der aus Syrien stammende Festivalleiter Orwa Nyrabia die Protestaktion mit Applaus bedacht, war die Aufregung groß.
Nach einem offenen Brief von diversen israelischen Filmemachern veröffentlichten Nyrabia und das Festival ein Statement, in dem man sich von dem Slogan distanzierte und sich bei allen entschuldigte, die das Geschehen verletzt habe. IDFA sei ein sicherer und offener Ort für Debatten und Meinungsfreiheit, Demokratie und das Verhandeln komplexer Weltsichten.
Distanzierendes Statement
Das palästinensische Filminstitut verurteilte die Erklärung des künstlerischen Leiters prompt als pauschale und ungerechte Kriminalisierung palästinensischer Stimmen und Geschichten, worauf es eine erneute Stellungnahme von Festivalseite gab. Man erkenne den Schmerz und die Verluste sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite in diesem andauernden Konflikt an und fordere eine Waffenruhe.
Dennoch zogen in der Folge mindestens 18 nicht nur palästinensische Filmemacher*innen ihre Filme aus dem laufenden Festival zurück, in Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza oder weil man den Umgang mit der Protestaktion bei der Auftaktveranstaltung als feige empfunden habe. Dass parallel Greta Thunberg in Amsterdam in unmittelbarer Nähe zum IDFA mit ihren jüngsten Äußerungen zum Nahostkrieg Aufsehen erregte, trug zusätzlich dazu bei, dass beim Festival in diesem Jahr selten die Filme für den meisten Gesprächsstoff sorgten.
Dabei hatte das, was auf der Leinwand gezeigt wurde, nicht selten ganz unmittelbar mit den Krisen und Konflikten zu tun, die dieser Tage unsere Welt dominieren. Der Eröffnungsfilm „A Picture to Remember“ der ukrainischen Regisseurin Olga Chernykh etwa beginnt mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022.
Wieder zurückgezogen
Den Abend verbrachte sie mit ihrer Mutter im Keller des Leichenschauhauses: Eigentlich wollte sie einen Film über dessen Arbeit als Pathologin drehen. Doch dem Krieg kann sich Chernykh nicht entziehen, und so ist er ihr nun Anlass für einen poetischen Filmessay, der Alltagsbeobachtungen, Archivmaterial, Familienvideos und Telefonate mit der noch immer in Donezk lebenden Großmutter nutzt, um weniger über die unmittelbare Situation in der Ukraine als über die eigene Biografie, Heimat und den Donbass zu reflektieren.
Auch in „1489“, der am Ende den Hauptpreis im internationalen Wettbewerb gewann, setzt sich eine Regisseurin unmittelbar damit auseinander, welche Folgen ein Krieg auf das Leben ihrer Familie hat. Die Armenierin Shoghakat Vardanyan begann im Herbst 2020 mit ihrer Handykamera zu drehen, nicht lange nachdem in Arzach der zweite Bergkarabach-Krieg begonnen hatte und ihr jüngerer Bruder verschwunden war. Die direkten Kampfhandlungen wurden damals nach einigen Wochen beendet, doch Vardanyan filmte weiter.
Sehr persönliche Trauer
Ihr Debüt, dessen Titel sich auf die Nummer bezieht, die ihrem als verschollen geltenden Bruder im Register zugeteilt wurde, ist nun eine enorm intime, sehr berührende Beschäftigung nicht nur mit der Alltagsrealität in einer Dauerkrisenregion, sondern vor allem mit sehr persönlicher Trauer und der Greifbarkeit einer ins Leben gerissenen Leerstelle. „Das Kino als Mittel des Überlebens“, urteilte die Jury sehr treffend, „das uns erlaubt, die Dinge in den Blick zu nehmen, die wir eigentlich nicht sehen wollen.“
Der Regiepreis ging derweil an den palästinensischen Regisseur Mohamed Jabaly, der in seinem Film „Life Is Beautiful“ ebenfalls eine sehr persönliche Geschichte erzählt. 2014 war er gerade für ein kulturelles Austauschprogramm in Norwegen, als in Gaza Krieg ausbrach und die Grenzen geschlossen wurden. Über die nicht unkomplizierte Situation des Gestrandetseins in Skandinavien erzählt er nun weniger mit unmittelbarem politischem Impetus oder fundierter Analyse der Situation in seiner Heimat, sondern mit erstaunlich viel hoffnungsvollem Witz, als Zeugnis der Paradoxitäten, die das Dasein als Palästinenser mitbringt.
„Ich möchte gehört werden“, sagte Jabaly gegenüber dem Guardian auf die Frage, warum nicht auch er sein Werk aus dem IDFA-Programm zurückgezogen habe. „Weil nun alles andere zerstört wird, bleiben uns doch nur noch unsere Geschichten und unsere Ausdrucksfreiheit.“
Genau wie die Filmbranche
Neben so viel Politik ließ sich in Amsterdam allerdings auch beobachten, dass der Dokumentarfilm als Geschäftsmodell längst nach den gleichen Prinzipien funktioniert wie der Rest der Branche. Mit dem günstig gelegenen Novembertermin ist IDFA längst zum Pflichttermin geworden für all jene Produzent*innen und Filmemacher*innen, die mitmischen wollen im Rennen um die Oscars und ähnliche Preise.
Filme wie „20 Days in Mariupol“ oder „Kokomo City“, die anderswo schon für Aufsehen gesorgt hatten, wurden noch einmal gezeigt, die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania rührte einmal mehr die Werbetrommel für ihren Cannes-Wettbewerbseitrag „Olfas Töchter“. Und Netflix ließ es sich einiges kosten – teils im offiziellen Programm, teils in privaten Screenings –, den mitreißenden „American Symphony“ über Musiker Jon Batiste und Roger Ross Williams’ fundierte Rassismusanalyse „Stamped From the Beginning“ als Award-Favoriten zu platzieren.
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