Disco-Kultur in New York: „Alle Wege führen zurück zum Loft“
Der britische Autor Tim Lawrence beschäftigt sich mit der frühen Pop-Kultur. Er sieht eine Linie von der Disco Demolition Night 1979 bis zu Trump.
taz: Tim Lawrence, Disco war zu seiner Blütezeit hochpolitisch. Was davon wirkt heute noch nach?
Tim Lawrence: Es gab damals eine reaktionäre Ablehnung von Disco, sie fand ihren Höhepunkt in der Disco Demolition Night bei einem Baseball-Match im Comiskey-Park-Stadion in Chicago am 12. Juli 1979. Ein lokaler Radio-DJ hatte dazu aufgefordert, Disco-Platten mitzubringen, und jagte sie dann in die Luft. Es war eine Gegenreaktion. Ich würde argumentieren, dass die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten genau an diesem Punkt begann. Disco Demolition Night traf die Grundstimmung einer weißen Bevölkerungsgruppe, die sich ökonomisch abgehängt fühlte. Discokultur wurde zum Sündenbock für den Verfall des Wohlstands.
Ihr Buchdebüt „Loves Saves the Day“ war nicht das erste Werk über die klassische Ära von Disco-Musik im New York der Siebziger, aber Ihres stach hervor. Was bewog Sie, es zu schreiben?
Das Buch „Disco“ von Albert Goldman erschien 1979, aber es handelte vornehmlich vom Manhattaner Club Studio 54. Es enthält eine rassistische Referenz über David Mancusos ebenfalls in New York ansässigen Club „The Loft“. Ein weiterer DJ-Pionier, Francis Grasso, wird nur flüchtig erwähnt. In den Neunzigern erschien dann von Anthony Haden-Guest „The Last Party“, aber darin ging es auch wieder um das Studio 54 und seine Celebrity-Kultur. Beide hatten ein Interesse am Nachtleben, das nichts mit DJs zu tun hatte, und ich fand, dass sie an der eigentlichen Dynamik vorbeigeschrieben hatten, die Partys auszeichnet.
Stimmt es, dass „Loves Saves the Day“ zunächst als Einleitungskapitel eines Buches über House-Sound gedacht war?
Ja. Das Buch über House sollte in Chicago Mitte der Achtziger einsetzen und dann zum New York der späten Achtziger übergehen, und von dort zu den Anfängen der englischen Rave-Kultur. Ich bin 1967 geboren, für mich war Disco also Musik, die ich zu ihrer künstlerischen Hochphase 1977/78 als Kind gemocht hatte. Als ich anfing, mich intensiver für Musik zu interessieren, ging ich aus und hört House. Für das Projekt interviewte ich DJs wie Tony Humphries, Frankie Knuckles und David Morales, und sie erwähnten einen Kollegen als prägenden Einfluss, David Mancuso. Also traf ich mich mit ihm und er riet mir, nicht erst mit Disco anzufangen, sondern bereits mit den frühen Siebzigern. Zuerst behagte mir die Idee nicht, aber dann erkannte ich, dass da eine Story war. Es ist ein zentraler Teil von Recherche, Ursprüngen nachzuspüren, und ich sah mich zwischen dem Journalismus und dem akademischen Betrieb. Fünfhundert Seiten später war ich im Jahr 1979 angelangt, und beendete ein völlig anderes Buch.
Was war die wichtigste Erkenntnis?
Ich erkannte, dass die wichtigste Entwicklung in dieser Kultur stattfand, als die Kommunikation zwischen DJ und Publikum zu einem völlig anderen Umgang mit der Musik führte. Und es war auch ein Teil der Gegenkultur, eng mit den sozialen Kräften verbunden, die in den USA der frühen Siebziger am Werk waren: die Schwulenbewegung, Bürger- und Frauenrechte, LSD-Experimente und die Antikriegsbewegung.
Hatten die Interviewten schon darauf gewartet, ihre Geschichte erzählen zu können?
Ja, bis dahin wurde ihre Story nicht wirklich erzählt, auch wenn ihr kultureller Einfluss in den 70ern enorm war. Nach dem Interview mit David Mancuso hatte sich herumgesprochen, dass man mir trauen konnte, und ich bekam Kontakte zu seinen Freunden – so kam ich zu DJ Francis Grasso. Als Mancuso und Grasso Anfang der 70er mit dem Auflegen begonnen hatten, gab es einen demografischen Wandel auf den Tanzflächen. Beide legten den Grundstein für das, was wir heute unter DJ-Kultur verstehen. Grasso war der Stamm-DJ des Sanctuary, das bis 1969 eine heterosexuelle Diskothek war, und dann die erste, die Schwule einließ. In den Sechzigern musste der DJ ab und zu die Tanzfläche abwürgen, damit die Bar ihren Umsatz machen konnte. Aber dann wurde bald so frenetisch getanzt, dass Grasso die Intensität hochhalten wollte, und dafür erfand er die Technik des Mixens von zwei Platten.
Und Mancuso?
Mancusos Praxis war es, als musikalischer Gastgeber einer Privatveranstaltung zu fungieren, in seinem eigenen Loft, ausgestattet mit einer hochwertigen Hifi-Anlage, und seine Gäste auf eine musikalische Reise zu schicken. Seine erste Party fand am Valentinstag 1970 statt, unter dem Motto „Love Saves the Day“. Es führt eine direkte Linie vom frühen Loft zu anderen New Yorker Clubs wie der Paradise Garage in Hudson Square. Auch Robert Williams ging dorthin, was ihn dazu bewog, das Warehouse in Chicago zu eröffnen, in dem Frankie Knuckles als DJ die Grundfesten von House errichtete. Alle Wege führten zurück zum Loft.
Hatten Sie den Musiker Arthur Russell schon als Schlüsselfigur ausgemacht, an dem sich die Verbindungen dieser Entwicklungen aufzeigen ließen? Er wurde zum Gegenstand Ihres nächsten Buches, „Hold on to Your Dreams“.
Definitiv. Während der Gegenreaktion wurde es offensichtlich, dass sich die Disco-Szene, wie sie im Film „Saturday Night Fever“ dargestellt wurde, zunehmend von ihren Ursprüngen entfernt hatte. Sie wurde zum Lebensstil. Die Qualität der Musik hatte stark abgenommen und es war an der Zeit für etwas Neues. Steve D’Acquisto stand Arthur Russell sehr nahe und schlug mir vor, ein Buch über ihn zu schreiben. Mir wurde klar, dass ich nicht wie automatisiert Chronologie und Themen abarbeiten wollte. Nach seinem Aids-Tod 1992 verschwand Russell als Person aus der öffentlichen Wahrnehmung. Aber 2003 schrieb der Musiker und Autor David Toop einen langen Text über ihn in der Zeitschrift The Wire, da zwei posthume Veröffentlichungen bevorstanden – das Interesse lebte wieder auf. Ich interessiere mich für Szenen, die nach dem Mitwirkungsprinzip funktionieren. Arthur Russell aber mochte Kollaborationen und die sozialen Erfahrungen, die durch Musik ermöglicht werden, und er war von sich aus offen für unterschiedlichste Genres. Daher wurde er zur Schlüsselfigur, die sich verschiedene Szenen von Downtown New York bewegte, wie etwa E-Musik, Punk, dann Disco und HipHop sowie Folk und Dub. Und er bewegte sich ohne Priorisierung und ohne hierarchisches Denken. Er wollte, dass die Szenen eine simultane Konversation haben, und er war sehr mobil.
In Ihrem aktuellen Buch, „Life and Death on the New York Dance Floor 1980–1983“, stellen Sie ausführlich dar, in was für einem Maßstab die Club- und Kunstszene jener Jahre interagiert haben. Hat die Mobilität, von der Sie sprechen, Sie direkt dorthin geführt?
Guter Punkt. Als ich mit dieser Anti-Biografie fertig war, begann ich mit dem neuen Buch, und es sollte erneut um House-Musik gehen. Es würde die Achtziger abdecken, und wieder dachte ich, die frühe Dekade wäre vielleicht ein Kapitel des Buches. In der Tanzmusik jener Jahre ging es um schwarze, queere und feministische Kultur und neue Denkweisen im Zusammenhang mit Musik. Aber das Schreiben über David Mancuso und Arthur Russell ließ mich umdenken. Und sobald ich anfing zu schreiben wurde schnell klar, dass ich Art-Punk und HipHop nicht ignorieren konnte, auch wenn ich wieder das Gefühl hatte, es wäre nicht mein Terrain. Es gab diese mutierende Phase, die den Zeitraum zwischen Disco und House überbrückte, und ich erkannte, dass diese Phase die eigentliche Story war. Es war ein Übergangsprozess ohne Namen, die Musik selbst hatte damals keine Namen. Heute benennen wir die Musik, aber Electro wurde beispielsweise in jenen Jahren nicht Electro genannt, und der Begriff HipHop kam nicht vor 1981 in Umlauf.
geboren 1967 nahe London, studierte Politik und Zeitgeschichte in Manchester. Er arbeitete als Journalist in England, dann in New York. In den nuller Jahren schrieb er Bücher über Discomusik und den Musiker Arthur Russell. Kürzlich erschien „Life and Death on the New York Dance Floor 1980–1983“. (Duke University Press, Durham, 600 S., ca. 30 Euro.)
Können Sie Beispiele dafür geben, was Sie bei Ihren Recherchen über den Kontext der New Yorker Downtown-Szene gelernt haben?
New York war im Wandel begriffen. Clubs mussten schließen, weil ihre Umgebung gentrifiziert wurde, neue Anwohner setzten Clubbesitzer unter Druck, weil Clubs den Marktwert ihrer Investitionen nicht steigerten. Eine Menge gegenwärtiger Probleme in der Clubkultur kamen schon im New York der Jahre 1984/85 auf. Aids wurde zum ersten Mal 1981 identifiziert, und 1983 nahm die Krankheit schon epidemische Ausmaße an, was gravierende Auswirkungen auf die Downtown-Szene hatte. Und Ronald Reagan war bis zum Ende seiner Präsidentschaft nicht einmal dazu bereit, über die Krankheit zu sprechen.
Was bewirkten diese Entwicklungen gesellschaftlich?
Schwule wurden in die Defensive gedrängt, die Gesellschaft war homophob. Man weigerte sich, die Krankheit als ein Problem anzuerkennen, das nicht nur die Schwulen betraf. Das Gleiche passierte innerhalb der afroamerikanischen Gemeinde, weil 1984 der Crackkonsum ebenfalls epidemische Ausmaße annahm, und sie am meisten unter den Kürzungen im Sozialwesen zu leiden hatte, die von der US-Regierung eingeführt worden waren. Die Musik veränderte sich mit diesen Entwicklungen. Zwischen 1980 und 1983 gab es jede Menge Platten, die einen hybriden Charakter aufwiesen und sich zwischen allen Szenen hin und her bewegten – die Menschen bewegten sich ebenfalls zwischen den Szenen. All die Kunst im Buch fand in Clubräumen statt, und nicht in Galerien. Ab 1984 schotteten sich ganze Szenen ab, und 1988 hatte nur einer der erwähnten Clubs überlebt. Mein Buch untersucht das alles nicht aus Nostalgie, sondern auch als Kritik der Gegenwart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!