Digitalisierung in Schulen: Eine lernende Organisation
Das Leibniz-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg ist Teil eines Modellprojekts zum digitalen Lernen. Der Weg ist steinig – und birgt Überraschungen.
Starre Strukturen aufbrechen, den SchülerInnen Freiräume ermöglichen, und dafür die Möglichkeiten nutzen, die das Digitale bietet: Das, sagt Krollpfeiffer-Kuhring, seien ihre Ziele, wenn sie in die Zukunft schaue. Die Zukunft, das ist in dem Fall das Jahr 2024: Das Leibniz-Gymnasium ist eine von 18 Berliner Schulen, die seit Mitte 2021 an dem dreijährigen Schulversuch „Hybrides Lernen“ teilnehmen.
Die Coronapandemie hat einiges angeschoben in Sachen Digitalisierung. Lehrkräfte bekamen plötzlich Tablets und Dienstmailadressen. Digitale Lernplattformen, lange Jahre unbeachtet, verzeichneten Rekordzugriffe, der Bund machte Millionen locker. Jetzt gehe es darum, erklärt die Berliner Bildungsverwaltung, „digitale Medien und Tools didaktisch nachhaltig in schulisches Lernen zu integrieren“. Angestoßen hatte das Pilotprojekt die im Dezember ausgeschiedene Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD); ein Team von WissenschaftlerInnen aus Köln und der Berliner Humboldt-Universität begleitet es.
Alle zwei Wochen gebe es ein Netzwerktreffen mit den anderen Schulen im Schulversuch, sagt Krollpfeiffer-Kuhring. An ihrer Schule begleitet eine Steuerungsgruppe, der auch SchülerInnen und Eltern angehören, das Projekt. Teil nehmen am Leibniz-Gymnasium insgesamt drei Klassen; ein Team aus PädagogInnen hat sich in Arbeitsgruppen aufgeteilt: Es geht um digitale Leistungskontrollen, aber auch um selbstbestimmtes Arbeiten jenseits eines festen Stundenplans – eine Art Gleitzeitmodell für SchülerInnen.
Lernalltag selbstständig organisieren
Konstantin Marx, ein schlaksiger, redegewandter Zehntklässler, sitzt als Schülervertreter in der Steuerungsgruppe. Vor dem Lockdown, sagt er, hätten sie noch Arbeitsblätter bekommen, die ein Lehrer auf der Schreibmaschine getippt habe. Jetzt bekämen sie auch mal Links zu Onlinevideos, wo ein Matheprofessor den Satz des Pythagoras erklärt. Viel entscheidender aber sei, sagt Marx, dass er im Distanzunterricht gelernt habe, seinen Lerntag selbstständig zu organisieren. Er arbeitet jetzt in einer Projektgruppe, die überlege, wie man die starre Präsenzkultur an der Schule verändern könnte.
„Das mal aufzubrechen: Von Montagmorgen bis Freitagnachmittag müssen hier alle im Gleichtakt alles durchlaufen, das ist eine große Chance“, sagt auch die Schulleiterin. Und: „Wir haben das Glück, eine interessierte, leistungsstarke Schülerschaft zu haben.“ Krollpfeiffer-Kuhring weiß, dass SchülerInnen, die sich selbst zu Hause den Tag im Homeschooling organisieren, eine Voraussetzung sind, die nicht alle Schulen haben. Andernorts berichten Lehrkräfte, sie hätten im Lockdown viele Kinder völlig aus dem Blick verloren. Wie groß die Lernlücken sind, wertet die Bildungsverwaltung derzeit anhand von Lernstandserhebungen aus.
Die größte Schwierigkeit an ihrer Schule sei der Zeit- und Personalfaktor, sagt die Kreuzberger Schulleiterin. Für die KollegInnen, die an dem Schulversuch beteiligt sind, bekommt sie keine Vertretung – sie kann sie für die Konzeptarbeit also nicht einfach eine Stunde pro Woche vom Unterricht freistellen.
Das läuft „on top“, sagt auch Bettina Deutsch, die Französisch und Geschichte am Leibniz unterrichtet und mit ihrer 9. Klasse an einem digitalen Zeitzeugenprojekt zur NS-Zeit teilnimmt. SchülerInnen können über ihre Tablets mit Shoah-Überlebenden interagieren. Für viele LehrerInnen sei die zusätzliche Arbeitszeit für den Schulversuch ein „Hemmschuh“, sich überhaupt zu engagieren: „Da ist schon sehr viel intrinsische Motivation der Kolleginnen und Kollegen nötig.“
Im Kern geht es bei dem Schulversuch darum, der Pandemie etwas abzuringen. Das Erstaunen der Schulleiterin über einen Videocall in die USA ist aber auch ein Ausdruck dafür, wie unglaublich spät sich die Schulen aufgemacht haben ins digitale Zeitalter. Das zeigt sich etwa beim schnellen Internet, ohne das Videokonferenzen gar nicht möglich sind: In Berlin sind aktuell nur Berufsschulen flächendeckend ans Breitbandnetz angebunden. Seit März 2021 läuft immerhin an 25 allgemeinbildenden Schulen ein „Testversuch“ mit schneller Glasfaseranbindung. 35 Standorte sollen folgen.
Doch selbst ein leistungsfähiges WLAN-Netz ist in den meisten Schulen kaum existent, wie eine Anfrage der CDU an die Bildungsverwaltung aus dem Dezember zeigt: Die meisten Bezirke zählten diese Schulen an einer Hand ab, Neukölln meldete keine einzige. Die meisten Schulen behelfen sich seit dem pandemiebedingten Homeschooling im Lockdown-Frühling 2021 mit rund 10.000 LTE-Routern, die in den Steckdosen der Klassenzimmer stecken. Die Bildungsverwaltung hatte, erstaunlich unkompliziert und schnell, die Geräte bestellt und in die Schulen geschafft.
Markus Müller ist Mathelehrer und als IT-Betreuer am Leibniz-Gymnasium Teil des Schulversuchsteams. Am Dienstagmorgen vor den Winterferien steht er in der 8 a vor dem digitalen Whiteboard, auf das er eine Aufgabe geschrieben hat. Die Schüler*innen holen ihre Smartphones heraus und öffnen eine App. Es gehe, sagt Müller, um Selbstständigkeit: Wie kann ich mit der App kontrollieren, ob der Graph, den ich soeben gezeichnet habe, stimmt? Mitunter seien Erklärvideos sogar besser als jeder Pädagoge, sagt Mathe-Lehrer Müller. „Da können die Schüler so oft sie wollen die Pausetaste drücken, das können sie beim Lehrer nicht.“ Aber die Lehrkraft müsse dann da sein für Fragen.
Die richtige Software
Für sinnvollen Distanzunterricht braucht es aber auch die richtige Software, wissen sie inzwischen am Leibniz-Gymnasium. Eigentlich sollen die Schulen dafür den Lernraum Berlin nutzen, die offiziell von der Bildungsverwaltung lizenzierte und bereitgestellte Online-Lernplattform. Eine halbe Million Euro hat die Bildungsverwaltung im Schuljahr 2020/21 in den Lernraum investiert und zusätzliche Serverkapazitäten organisiert, nachdem der Lernraum in der Homeschooling-Hochphase zeitweilig zusammenbrach. Und man ist ordentlich stolz auf die explodierten Zugriffsraten, die vor der Pandemie bei etwa 50.000 pro Tag lagen und dann auf rund 1 Million stiegen.
Doch der Lernraum Berlin hat am Leibniz-Gymnasium keine Fans. Der Lernraum werde „aufgrund der wenig intuitiven Nutzerführung und hierarchischen Struktur“ oft lediglich als Dateiablage mit Videokonferenzmöglichkeit genutzt, sagt Martina Kaltenbacher. „Lernplattformen setzen aber pädagogische Standards, das wird nur viel zu selten diskutiert.“
Die ehemalige Lehrerin Kaltenbacher ist seit zwei Jahren pensioniert, doch sie arbeitet weiter in der Steuerungsgruppe des Schulversuchs am Leibniz-Gymnasium. Hier arbeitet man lieber mit Microsoft Teams, etwa wegen der Cloud, wo SchülerInnen gemeinsam an Powerpoint-Präsentationen arbeiten können. Die Bildungsverwaltung schätzt das nicht, weil nicht abschließend geklärt ist, ob Microsoft Teams eine datenschutzkonforme Lösung für Schulen ist.
Aber: Welche Plattform sie nutzen, liegt in der Eigenverantwortung der Schulen. Von der Bildungsgewerkschaft GEW und auch vom Berliner Landeselternschuss gibt es deswegen seit Langem Kritik: Sie sehen die Politik in der Pflicht, den Schulen Rechtssicherheit zu geben – weil die Unsicherheit beim Datenschutz bei vielen Schulleitungen die Begeisterung für den digitalen Fortschritt ausbremse. Immerhin, der politische Wille ist da, das zu ändern, wie der frische rot-grün-rote Koalitionsvertrag des neuen Berliner Senats vom Dezember zeigt: Eine „Positivliste von digitalen Anwendungen“ werde „erarbeitet“ heißt es dort. Auch der Lernraum Berlin soll weiterentwickelt werden.
Manchmal stolpern die Berliner Schulen auf dem Weg in die digitale Zukunft aber auch schlicht über Bürokratie. Krollpfeiffer-Kuhring erzählt von 18 nagelneuen Tablets, die sie gerne für den Schulversuch nutzen würden, die aber im Schulkeller lagern, weil kein Personal da ist, das sie einrichten könnte.
Mathelehrer Müller ist in seiner Funktion als IT-Beauftragter zwar wenige Stunden pro Woche freigestellt, dazu kommt noch für einen Tag eine externe IT-Technikerin an die Schule. Doch das reiche nicht. „Wir sind hier hardwaremäßig vergleichbar mit einem mittelständischen Unternehmen, das üblicherweise eine IT-Abteilung hat“, sagt Müller. Die Schule, habe, auf zwei Standorte verteilt, etwa 160 Rechner, rund 30 WLAN-Access-Points, in jedem Klassenzimmer noch ein Smartboard, nun noch die 18 Tablets. „Das muss alles eingerichtet, gewartet, erneuert und weiterentwickelt werden. Wir bräuchten eigentlich fünf Tage pro Woche einen IT-Techniker.“
Krollpfeiffer-Kuhring wollte die Tablets für die Lehrkräfte, die es 2020 aus den Corona-Digitalpakt-Mitteln des Bundes gab, für den Schulversuch umwidmen. Die meisten KollegInnen nutzten ohnehin lieber ihre privaten Geräte. Doch die LehrerInnen-Tablets dürften keine SchülerInnen-Tablets werden, erklärte man ihr: unterschiedliche Finanzierungstöpfe. Auch an andere Schulen darf sie nicht weitergeben.
Martina Kaltenbacher sieht es positiv. Man könne, sagt sie, aus der Digitalisierung auch ein Lehrstück machen: „Man kann zeigen: Schule ist eine lernende Organisation.“
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