Digitale Kulturgüter in der Ukraine: Das große Backup

Nicht nur analoge, auch digitale Kulturgüter in der Ukraine sind durch den Krieg bedroht. Hunderte Ar­chi­va­r*in­nen versuchen nun, sie zu retten.

Eine Statue mit weißer Plastikfolie umwickelt und von einem Gerüst geschützt

Mit Plastik­folien sollen Statuen, wie hier in Lviv, vor der Zerstörung geschützt werden Foto: Mads Nissen/Politiken/laif

Bevor Wladimir Putin den Angriff befahl, sprach er in Fernsehreden der Ukraine ihre geschichtliche Existenzberechtigung und eigenständige kulturelle Identität ab. Aber das kulturelle Erbe der Ukraine steckt auch in der Architektur, in der Literatur, in der Kunst, in all den Erzeugnissen aus Papier, Stein und Mörtel, die durch die Bomben bedroht sind. Dutzende Fälle von beschädigten oder zerstörten Kirchen, Synagogen, Museen und Bibliotheken dokumentierte die Organisation Blue Shield, die sich um Schutz von Kulturgut im Kriegsfall kümmert.

„Es ist klar“, sagt Gudrun Wirtz, „dass es Russland darum geht, die Kultur, die kulturelle Identität der Ukraine zu zerstören.“ Wirtz sitzt in München in ihrem Büro der Bayerischen Staatsbibliothek, in dem imposanten Bau aus Stein und Mörtel; und doch ist die Bewahrung ukrainischer Kultur auch Teil ihrer Arbeit. Sie leitet die Osteuropaabteilung, die eine der größten Sammlungen osteuropäischer Literatur verwaltet. Ein Regal im Ostlesesaal ist allein mit den Neuerscheinungen aus der Ukraine gefüllt. Die Rettung der Originale vor Ort sei die Priorität ihrer ukrainischen Kolleg:innen, sagt Wirtz. Keine Zeit bliebe da für die Rettung der digitalen Schätze.

Doch auch diese sind bedroht. Die bibliothekarische Akribie kommt durch, wenn Wirtz erklärt, was es da zu retten gibt: die Digitalisate und das originär Digitale. Das eine sind die Scans von Büchern, Akten und Kunstwerken, bei denen die Originale schon zerstört oder verschollen sein könnten; das andere die im Digitalen geborenen Güter: Museumswebsites, 3D-Kunstprojekte, elektronische Kataloge, ohne die eine große Bibliothek unbenutzbar wird. Diese digitalen Güter hängen von der physischen Oberwelt ab: Also beispielsweise vom Strom, von den Servern, aber auch von dem Geld für die Miete von Speicherplatz, wenn der Server irgendwo im Ausland steht. Sie sind bedroht durch Bomben, Cyberattacken, durch Ausfälle von Mietzahlungen und durch die russische Besatzung.

Die Kulturgüter ins Trockene bringen

Kurz nach Kriegsbeginn versuchte Wirtz, die 1.500 ukrainischen Websites zu retten, die ihre Abteilung bereits zuvor als wichtig befunden und katalogisiert hatte. Sie überlegte, es einfach über die Staatsbibliothek zu machen. Websites aus anderen Ländern zu archivieren, also Backups zu erstellen, so einfach sei das gar nicht, erklärt Wirtz, datenschutzrechtlich gesehen. Als der Krieg ausbrach, habe sie zwar überlegt, es trotzdem zu machen – wer würde sich schon beschweren. Doch sie entschied sich für „Sucho“. Sucho – Saving Ukrainian Cultural Heritage Online. Zufällig ist dieser Name nahe am Wort für „trocken“ in den meisten slawischen Sprachen, bemerkt Wirtz. Das passt, schließlich geht es darum, bedrohte digitale Kulturgüter ins Trockene zu bringen.

Bei dem Projekt Sucho sammeln und archivieren Freiwillige aus aller Welt die Websites von ukrainischen Museen, Archiven und anderen Kultureinrichtungen. Die Freiwilligen sind einerseits Geschichtswissenschaftler*innen, Archivare oder Bi­blio­the­ka­r*in­nen wie Gudrun Wirtz; andere kennen sich gut mit Website-Archivierung aus, sie sind Pro­gram­mie­rer*in­nen-Nerds.

Sebastian Majstorović ist als Digitalhistoriker in der Überschneidung dieser beiden Gruppen. Er kommt aus Deutschland, arbeitet an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und gehört zu dem Gründungsteam des Projekts.

Ein Hauch Hackeridealismus

Majstorovićs Motivation für dieses Projekt ist zum Teil geschichtlich geprägt: Sein Vater kommt aus Bosnien; von ihm weiß er, wie in Sarajevo die Nationalbibliothek im Kriegsjahr 1992 durch Beschuss in Flammen aufging. Damals gab es keine digitalen Kopien, ein Großteil der Bücher ging damals für immer verloren. Kultur könne Ziel eines Angriffskrieges sein, Kulturzerstörung könne zum Missbrauch der Geschichte führen, sagt Majstorović im Gespräch übers Telefon. „Ich bin mir sehr bewusst, wie fragil Kulturgut sein kann.“

Aber es gibt noch die andere Seite seiner Motivation, die originär aus dem Digitalen kommt. Majstorović ist ehemaliger Softwareentwickler. Sucho ist im Geiste des frühen Internets geboren: zusammenkommen, digitale Lösungen für alle nach dem Open-Source-Prinzip schaffen – einfach mal machen. Schon die Gründungsgeschichte trägt einen Hauch Hackeridealismus: Wenige Tage nach Kriegsbeginn entdeckte Majstorović auf Twitter eine Nachricht der Musikbibliothekarin Anna Kijas, die um Hilfe bei der Rettung ukrainischer Volksmusik bat. Es folgte eine schlaflose Nacht der wilden Website-Archivierung; ein Videocall mit Mit­strei­te­r*in­nen am nächsten Tag und wenige Stunden später lief das Projekt Sucho, koordiniert von Kijas, Majstorović und Quinn Dombrowski, einer Spezialistin für akademische Technologie.

Das Urprojekt der Internetarchivierung ist das Internet Archive, daran orientiert sich Sucho und nutzt teils dieselben Werkzeuge. Die erfassten Websites kann jeder einsehen über die sogenannte Wayback Machine, eine Art Zeitmaschine für Websites, eingefroren im Moment der Archivierung. Das Internet Archive arbeite nach der Rasenmähermethode alles ab, erklärt Majstorović, auch für die Ukraine.

Priorisiert wird auch nach Kriegsgeschehen

Aber das Internet ist sehr groß, auch der ukrainische Teil ist ein weites Feld für den vergleichsweise kleinen Rasenmäher. Zudem lassen sich manche komplexe Websites gar nicht so einfach vollautomatisch archivieren, sie sind sozusagen Gestrüpp auf dem Feld. Bei Sucho müssen sie gezielter vorgehen, Majstorović nennt das in Analogie zu der Priorisierung bei medizinischen Notlagen „Triage“: Die Freiwilligen suchen die kulturell wichtigsten Seiten und Archive raus, dann versucht man es zuerst mit der automatischen Archivierungssoftware, klappt das nicht, muss nachjustiert oder programmiert werden, wenn alles fehlschlägt: die Seite händisch retten.

Priorisiert wird auch nach dem Kriegsgeschehen. Anfang März habe man hundert Gigabyte Archivmaterial aus dem Staatsarchiv der heftig beschossenen ostukrainischen Stadt Charkiw gerettet, Stunden später seien die Seiten dort offline gewesen, erzählt Majstorović.

Mal ist Programmieren gefragt, mal braucht es gute Kenntnisse der ukrainischen Sprache oder man muss zumindest mit Kyrillisch klarkommen. „Das Tollste an Sucho“, sagt Majstorović, „ist das Empowerment.“ Der breite Graswurzelaktivismus sei eben auch möglich, weil man sich gegenseitig helfe und weil es nicht notwendig sei, programmieren zu können. Und weil man – anders als in der Hackersphäre des frühen Internets – nicht nur puristisch die selbstgeschriebenen komplizierten Programme verwende, sondern auf die zugänglichen Massenplattformen zugreife, wie Slack für die Kommunikation oder Google-Spreadsheets für die Organisation.

Die 1.500 katalogisierten Websites schickte Wirtz also an Sucho, da war man durch das etablierte Internet Archive rechtlich auf der sicheren Seite. Drei Tage nach dem Start des Projekts habe sie sich ebenfalls daran beteiligt, erzählt sie. Zunächst privat, sie überprüfte und übersetzte archivierte Websites, später spannte sie einen Teil ihres Teams zur Unterstützung ein. Zwei Stellen hat Wirtz für geflüchtete Bibliothekarinnen geschaffen, sie sollen bald mit der Arbeit beginnen und teils auch Sucho unterstützen.

Eine Staatsbibliothek muss die rechtlichen und institutionellen Bremsen respektieren: Arbeitserlaubnis für Geflüchtete, rechtliche Absicherung für Archivierung, Förderanträge für Zusatzaufgaben. Sucho läuft in einem anderen Takt. Das sei das Schöne an dem Projekt, sagt Wirtz: Man habe einfach losgelegt. Das hätte bei öffentlichen Institutionen so schnell nie funktioniert.

Nun stellen sich Fragen nach der langfristigen Sicherung der Daten, nach der rechtlichen Lage und auch: Was geschieht mit den Terabytes an archiviertem Material von inzwischen über 3.500 Websites? Idealerweise würden die archivierten Websites gar nicht gebraucht, weil die Institutionen und Server nicht zerstört werden, sagt Wirtz – aber auch sie hat festgestellt, dass jetzt schon viele Websites nicht mehr erreichbar sind. In manchen Fällen können die Backups dem Wiederaufbau dienen.

Majstorović ist mit der Unesco, Blue Shield und anderen Organisationen in Kontakt. Die Frage, was mit dem Archiv geschieht und wo man noch helfen kann, reicht er auch weiter an diejenigen, deren Kultur gerettet wird. Vor zwei Wochen konnte das Sucho-Team erstmals ausführlicher mit ukrainischen Schüt­ze­r:in­nen von Kulturgut sprechen. Das Anliegen der Ukrainer:innen: Helft uns, die Originale schnell zu digitalisieren. Und gebt uns eine Plattform, um die digitale Kultur auszustellen. Das will Sucho nun machen.

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