Diebstahl in Bibliotheken: Dem Büchermarder auf der Spur
Norbert S. wird verdächtigt, seit 1988 wertvolle Stiche und Karten aus Universitäts- und Landesbibliotheken zu stehlen. Eine Rekonstruktion.
Am Nachmittag des 21. Februar 2006 setzt sich Norbert S. im Lesesaal der Stadtbibliothek Trier an einen Tisch und öffnet ein 400 Jahre altes Buch über europäische Geografie. Mit geübten Handgriffen legt er ein weißes Blatt Papier über die aufgeschlagenen Seiten Nr. 375 und 376, zückt ein Teppichmesser und schneidet eine Karte heraus: das Elsass.
S. bemerkt nicht, dass zwei Angestellte von ihren erhöhten Arbeitsplätzen an der Buchausgabe einen guten Blick über den Lesesaal haben. Sie fragen S., was er da treibt.
„Man kann es ja mal versuchen“, erwidert der, wirft seine Bibliothekskarte auf den Tisch und eilt aus dem Gebäude – mit der historischen Karte im Gepäck.
Fassungslos rufen die Bibliothekar:innen Gunther Franz, den Leiter der Bibliothek, zu Hilfe. Franz findet im Lesesaal schnell zwei weitere Zeugen und erstattet Anzeige bei der Polizei. Außerdem warnt er per Mail andere Bibliotheken vor dem Dieb. Gunther Franz lehrt die Geschichte des Buchs in Trier, S. habe sich dort als Historiker vorgestellt, schreibt er. Er sei mittelgroß, korpulent, mit blonden, relativ langen Haaren und auffallendem Schmuck.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der „Büchermarder“
In seiner Mail gibt Franz Norbert S. den Namen Büchermarder. Marder sind Räuber (allerdings machen sie für gewöhnlich Jagd auf Vogeleier) – und sind schwer loszuwerden. Der Spitzname passt. Und bleibt.
Knapp 500 Kilometer weiter nördlich, in der Landesbibliothek Oldenburg, liest Klaus-Peter Müller Franz’ Mail. Er wird „kreidebleich“, wie sich seine Kollegin Corinna Roeder später erinnert. Müller kennt Norbert S..
Der „Büchermarder“ war ein regelmäßiger Gast in der Oldenburger Bibliothek. Er gab sich als Doktorand mit einem Forschungsschwerpunkt auf Reiseliteratur und Atlanten aus. Müller erinnert sich an ein Gespräch mit S. über dessen Studien. „Ich war vollkommen arglos“, sagt er.
Gemeinsam mit Corinna Roeder durchforstet Müller die Unterlagen der Bibliothek nach Hinweisen auf S. Die allermeisten Informationen sind gelöscht, Privatsphäre ist hier ein hohes Gut. Nur vom letzten Besuch ist im System ein Detail vermerkt: S. hat im Herbst 2005 in Oldenburg einige Bücher eingesehen und angekündigt, in naher Zukunft wiederzukommen. Die Bände, die er damals bestellte, stehen daher noch immer für ihn zur Einsicht bereit.
Müller und Roeder untersuchen die Bücher. Zwei sind vollständig, unter ihnen ein wertvoller Foliant über spanische Geografie. Auch das dritte Buch, Louis Renards „Atlas van Zeevaert en Koophandel door de Geheele Weereldt“, ein See- und Handelsatlas aus dem Jahre 1745, scheint auf den ersten Blick unversehrt – dann aber sehen die beiden genauer hin.
Neun Karten sind herausgeschnitten, unter ihnen Renards Übersicht über die gesamte damals bekannte Welt sowie aufwendig illustrierte Darstellungen von Südostasien und der Hudson Bay im Nordosten Kanadas. Auch der Appendix, in dem die Karten verzeichnet sind, fehlt. Damit nicht genug: Mit einem Bleistift wurden, wie in Archiven üblich, nachträglich die verbliebenen Seiten durchgehend nummeriert, mit kleinen Ziffern in der oberen Ecke des Papiers. So bedarf es wirklich eines aufmerksamen Blicks, um überhaupt festzustellen, dass in dem Atlas Seiten fehlen.
„Man sitzt da und schnappt nach Luft“, sagt Roeder 14 Jahre später in ihrem Büro. Sie ist heute Direktorin der Landesbibliothek und hat alle Bücher, an die S. Hand angelegt hat, noch einmal herausgeholt. Wie Beweismaterial liegen sie vor ihr auf dem Tisch. Sie schätzt den Schaden auf zwischen 36.000 und 40.000 Euro.
Überall fehlen den Bibliotheken Seiten
2006 erstattet Roeder Anzeige. Auf Anraten einer Bekannten durchforstet sie Online-Auktionen nach Karten, die aus dem Renard-Atlas stammen könnten. Sie vergleicht die Fotos in den Portalen mit dem Oldenburger Exemplar – die Farben der Abbildung; die Größe der Seiten; die Farbe, Art und Faltung des Papiers – und erfragt per Mail die Herkunft der zum Verkauf angebotenen Seiten.
Um Ostern kommen für Roeder nur noch zwei Händler infrage. An einem sonnigen Morgen Anfang Mai steigt sie mit ihrem Kollegen Klaus-Peter Müller in den roten VW Golf der Landesbibliothek und macht sich auf den Weg, die verlorenen Karten zurückzuholen. „Wir fühlten uns ein bisschen so wie im Film, wie in einem Roadmovie“, sagt Roeder.
Abermals 500 Kilometer, aber diesmal nach Westen, nach Gent in Belgien, reisen Roeder und Müller, mit dem Renard-Atlas auf dem Rücksitz. Bei einem Auktionshaus machen sie halt, doch die hier angebotenen Seiten, so wird schnell klar, sind nicht die gesuchten. Weder die Größe noch die Oberfläche des Papiers passen. Außerdem ist das Oldenburger Exemplar in einem besseren Zustand.
Nach einer Nacht im Hotel geht es 120 Kilometer weiter Richtung Breda in die Niederlande, zu dem kleinen, gepflegten Antiquariaat Plantijn. Der Inhaber, Dieter Duncker, ist nicht nur sehr zuvorkommend, sondern spricht auch ausgezeichnet Deutsch. Er zeigt Roeder und Müller die angefragten Karten. Gemeinsam begutachten sie die Seiten und nehmen Maß.
„Diese vier Karten passten“, sagt Roeder und macht eine bedächtige Pause, „genau in unseren Atlas.“
Roeder und Müller sind nicht die Einzigen, die beim Namen Norbert S. hellhörig geworden sind. Nur einen Monat nach der Mail mit seiner Warnung ist Gunther Franz in Kontakt mit 20 Institutionen, die davon ausgehen, dass S. Seiten aus ihrem Bestand gestohlen hat. Seit 1988 wird eine Serie von Abbildungen des Rheins in der Universitäts- und Landesbibliothek der TU Darmstadt vermisst. 2002 kam in Bonn ein gerade restauriertes Buch des Philosophen und Astronomen Johannes Kepler von 1616 abhanden. Immer gibt es Hinweise, dass in der Zeit S. die Sammlungen besucht hat. Einmal soll er sich dabei als Kulturjournalist ausgegeben haben.
Auch Sven Kuttner, der Leiter der Abteilung „Altes Buch“ der Universitätsbibliothek der LMU München, erhält Franz’ Nachricht. 2005 hatte S. Monate in der Bibliothek verbracht, er hatte sich als Geisteswissenschaftler vorgestellt, der an einer Bibliografie über historische Karten ab 1500 arbeite. Kuttner stellt fest: Fast fünfzig Bücher, die S. durchgesehen hat, sind nicht mehr vollständig.
Er erinnert sich gleichzeitig an die großen Ringe, die S. an den Fingern trug. Heute geht er davon aus, dass sie über scharfe Kanten verfügten oder kleine Klingen darin versteckt waren. „Er hat immer Blickkontakt gesucht“, erzählt der Bibliotheksleiter. „Damals maßen wir dem keine große Bedeutung bei.“
Kuttner erstattet Anzeige und erteilt S. Bibliotheksverbot. Außerdem schafft er eine Feinwaage an, die das Gewicht bis auf ein Hundertstel Gramm genau angibt. Damit werden fortan alle wertvollen Bücher vor und nach der Nutzung gewogen.
Zu gutgläubige Antiquar:innen
Franz sammelt die Berichte aus Bibliotheken in ganz Deutschland und leitet sie an die Staatsanwaltschaft in Bonn weiter. Die hatte schon 2002 wegen des gestohlenen Kepler-Buchs ermittelt. Franz ist zuversichtlich, dass es diesmal zu einer Anklage kommt. Immerhin wurde S. in Trier auf frischer Tat ertappt – zum ersten Mal, obwohl er damals vermutlich schon seit mindestens 17 Jahren als „Büchermarder“ auf Raubzüge ging.
Auch in Breda sind Roeder und Müller optimistisch. Duncker bestätigt, dass es sich bei den Karten in der Tat sehr gut um die vermissten Oldenburger Buchseiten handeln könnte. Er sagt zu, die Karten nicht weiter zu verkaufen und außerdem die Ermittlungen zu unterstützen.
Duncker hatte die Karten im Februar 2006 auf einem Pariser Antikmarkt für historische Illustrationen gekauft. Ein hagerer Deutscher (vermutlich nicht Norbert S.) war auf den Händler zugekommen und hatte ihm die vier Seiten für insgesamt 5.000 Euro angeboten – ohne Rechnung, Namen oder anderweitige Kontaktdaten.
Manche Bibliothekar:innen kritisieren, dass viele Antiquar:innen beim Handel mit historischen Dokumenten und Büchern zu gutgläubig sind. „Antiquare gucken im Prinzip nur oberflächlich auf die Sachen, die sie kaufen – die fragen nicht nach der Herkunft“, erklärt Roeder. Duncker erwidert auf die Nachfrage, ob unter den Buchseiten, die er zum Verkauf anbietet, möglicherweise auch gestohlene sind: „Wie soll ich das genau wissen?“
International ist die Nachfrage nach antiken Karten groß. René Allonge war am Berliner Landeskriminalamt mit dem Fall S. betraut. Er ist Leiter der Abteilung für Kunstkriminalität. „Man denkt: ‚Wer macht denn so was? Kann man damit überhaupt Geld verdienen?‘ Ja. Dafür gibt es einen Markt.“ Ein Bibliothekar vermutet, dass S. in den späten 1990er Jahren mit den Diebstählen, die ihm bisher angelastet werden, etwa 200.000 Mark pro Jahr verdient haben könnte.
Seit dem Vorfall von 2006 schaut die deutsche Bibliothekswelt eine Weile gespannt nach Bonn. Auf die Ermittlungen gegen S. bei der dortigen Staatsanwaltschaft. Doch sie erhebt keine Anklage. Die Vorwürfe stützen sich in erster Linie auf Indizien: Die Bibliotheksangestellten können zeigen, dass S. die beschädigten Bücher benutzt hat. Beweisen, dass er die Seiten herausschnitt, können sie nicht.
Bei einer Hausdurchsuchung am 22. November 2002 hatte man bei S. zwar Bibliografien und Verzeichnisse von historischen Abbildungen in deutschen Bibliotheken gefunden, aber keine gestohlenen Karten. Die Bonner Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren in dem Trierer Fall ein, wegen Geringfügigkeit, laut ihrer Schätzung ist nur ein Sachschaden von 500 Euro entstanden. Eine Stellungnahme dazu lehnt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft ab.
Corinna Roeder gibt den Renard-Atlas nicht auf. Sie beginnt im Dezember 2008, mit Duncker privat über die Karten zu verhandeln, allerdings können sich die beiden nicht auf einen Preis einigen. Schlussendlich verkauft der Antiquar die Buchseiten anderweitig.
Ohne die Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden müssen sich die Bibliotheken gegen den Büchermarder selbst zur Wehr setzen. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das weitere 13 Jahre dauert. In diesem Zeitraum taucht S. mindestens 15-mal in Bibliotheken in der ganzen Bundesrepublik auf. 2010, 22 Jahre nach seinem ersten Besuch, macht er wieder einen Termin in der Universitäts- und Landesbibliothek der TU Darmstadt. Man stellt ihm eine Falle, doch S. taucht nicht auf.
„Das bedauere ich bis heute“, sagt Silvia Uhlemann, die Leiterin der historischen Sammlung. S. scheint sich am besagten Tag gar nicht in Darmstadt, sondern in Düsseldorf aufzuhalten. Die Bibliotheken haben sich untereinander organisiert, sie vermuten, dass S. inzwischen Pseudonyme benutzt oder mit Kompliz:innen zusammenarbeitet.
Im Juli 2017 taucht S. in der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol in Innsbruck auf, diesmal gibt er sich als emeritierter Geschichtsprofessor aus. Nach seinem Besuch recherchiert die Bibliothekarin Claudia Sojer online zu dem Gast und findet in einem Bibliotheks-Newsletter die Warnungen vor dem Büchermarder. Sie untersucht eine Kepler-Ausgabe aus dem Jahr 1627.
Während S. sie durchsah, saß die Bibliothekarin sogar im selben Raum, nur einmal verließ sie den Besuch kurz, um auf die Toilette zu gehen. Es fehlt der Kupferstich einer Weltkarte. Sein Wert wird später auf 30.000 Euro geschätzt. Nach diesem Diebstahl gelingt es der Staatsanwaltschaft endlich, S. in seiner Heimatstadt Witten vor Gericht zu bringen.
S. ist mittlerweile 65 Jahre alt. Seit mehr als drei Dekaden genießt er nun schon den zweifelhaften Ruf eines Bücherdiebs. Zum Prozess im April 2019 erscheint der Mann, von dem man ausgeht, dass er als Büchermarder Bibliotheken unsicher macht, mit gepflegtem weißen Schnurrbart und blauem Blazer, gestützt auf eine violette Krücke. „Die Anklage ist doch lachhaft“, verkündet er im Foyer gut gelaunt gegenüber der lokalen Presse. Auf die Verhandlung habe er sich gefreut.
Im Gerichtssaal schlürft S. Cola Light und spricht nur ein einziges Mal: um zu beteuern, dass die Karte schon gefehlt habe, als er das Kepler-Buch einsah. Sein Anwalt argumentiert, dass jede:r den Kupferstich gestohlen haben könnte, auch eine Mitarbeiterin der Bibliothek. Eine erneute Hausdurchsuchung bei S. liefert keine weiteren Beweise.
2019 in Witten zeigt sich: Das Vorstrafenregister ist lang
Der Prozess bringt einige Details über S.s Biografie zutage: Er ist ausgebildeter Industriekaufmann, Vater dreier erwachsener Kinder und war viermal verheiratet. Vor Gericht erklärt der Verteidiger, sein Mandant habe oft in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen.
Wie sich herausstellt, wurde S. bereits in mehr als einem Dutzend Fällen wegen Diebstahls oder Betrugs verurteilt. Häufig kam er mit Geld- oder Bewährungsstrafen davon, Anfang der Zweitausenderjahre hatte er auch eine anderthalbjährige Gefängnisstrafe verbüßt. 2019 ergeht das Urteil der Richterin Barbara Monstadt: Ein Jahr und acht Monate Gefängnis ohne Bewährung.
Corinna Roeder hätte sich gewünscht, so ein Hafturteil wäre schon viel früher verhängt worden. Offensichtlich konnten Geld- und Bewährungsstrafen S. lange Zeit nicht stoppen. Nur wenige Tage nachdem er in Trier ertappt worden war, besuchte S. die nächste Bibliothek, in Halle an der Saale. „Wie viel muss man eigentlich anstellen, um dann eben auch bestraft zu werden und das nicht mehr zu tun?“, fragt Roeder.
S. hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Für die Schuld seines Mandanten sprächen lediglich „reine Indizien“, so sein Anwalt. Die Haftstrafe hat S. noch nicht angetreten, laut eigener Aussage leidet er an Diabetes, Krebs und an einer Herzerkrankung. Auf die Anfrage nach einem Interview für diese Reportage lässt S. seinen Anwalt ausrichten, er stehe nicht zur Verfügung, es sei denn, es handele sich um ein bezahltes Exklusiv-Interview.
In der Landesbibliothek in Oldenburg steht auf einem Regal hinter dem Informationsschalter zwischen einem Drucker und einigen Wörterbüchern noch immer ein Foto von S., im Anzug mit Krawatte. Auffällig platziert ist es nicht, jede weitere Erklärung fehlt. Man könnte es glatt für ein Andenken an einen ehemaligen Kollegen halten. Nur die Angestellten der Bibliothek kennen die Bedeutung des Fotos: Es ist eine Warnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht