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Die Zivilgesellschaft gegen den Staat

Ungarn wählt im nächsten Jahr ein neues Parlament. Das Orbán-System ist mächtig, aber nicht allmächtig. Junge Menschen setzen auf den Orbán-Herausforderer Péter Magyar

Illustration: Katja Gendikova

Von Bernadette Conrad

Sie kamen von überall an diesem 28. Juni, schoben sich in glühender Hitze über die Elisabethbrücke in der ungarischen Hauptstadt Budapest, ließen zwischen unzähligen Regenbogenfahnen auch die ungarische Fahne wehen. Was mich noch am Nationalfeiertag ein paar Tage zuvor verstört hatte, als ich die vielen rot-weiß-grünen Fähnchen für einen flächendeckenden Hinweis auf den Fidesz hielt, wusste ich nun anders zu lesen: „Wir lassen nicht mehr zu, dass Fidesz unser Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit kapert“, erklärt Politologin und Aktivistin Orsolya Sudár, 36. Und: „Péter Magyar hat es geschafft, die nationalen Symbole zurückzuholen.“ Magyar, ursprünglich selbst aus dem Fidesz, seit 2024 aber mit der Tisza-Partei kometenhaft aufgestiegen, liegt in Umfragen aktuell vor Orbán. Das kann wichtig werden, Ungarn wählt voraussichtlich im April 2026 ein neues Parlament. Wenn er an die Macht komme, würde er keine Versammlungen verbieten, hatte Magyar wissen lassen. Und das kurz nachdem die Orbán-Regierung seit Monaten über ein neues Gesetz die Pride zu verhindern versucht hatte.

Wie sind die Dinge zu lesen? Wie liegen Schein und Sein, Propaganda und Wirklichkeit übereinander? Und vor allem: Wie stark ist die Zivilgesellschaft?

Juni 2025. Strahlend weiß, hoch aufragend, dominiert die neogotische Fassade eines großen Amtsgebäudes den Dreifaltigkeitsplatz im Budaer Burgviertel. Orsolya Sudár bietet eine Führung durch die alte Herrschaftsmeile von der Burg bis zum Nationalarchiv. Gerade hat sie ihre Doktorarbeit zur Frage der politischen Instrumentalisierung von Architektur verteidigt. „Diese scheinbar historische Fassade wurde erst in diesem Jahr neu gebaut“, sagt Sudár: „So sah es zuletzt vor dem 2. Weltkrieg hier aus.“ Neue alte Pracht, momentan vom Innenministerium bewohnt. Sechs Kräne ragen über der alten Burg auf. Inmitten mehrerer nagelneuer historisierender Gebäude liegt das Karmelitinnenkloster, in dem Orbán residiert. Geplant sei, so Sudár, die gesamte Regierungsadministration ins Burgviertel zu holen, was im Blick auf die großen Touristenzahlen und auf die Sicherheit komplett unrealistisch sei: „Es gibt gar nicht genug Zufahrtswege“.

Dass dieses Disneyland der schönen Fassaden und mit phantastischem Blick auf die Donau nur die dünne Oberfläche ist, unter der sich mit Unsummen und vorbei an den leitenden Stadtplanern die Fidesz-Regierung eine Machtlandschaft erbaut, ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Hier wird eine Herrschaft in Stein gemeißelt, die mehr mit Monarchie als mit den Legislaturperioden einer Demokratie zu tun hat. „Das Narrativ hinter alldem ist: Es hat ein Ungarn vor dem 2. Weltkrieg gegeben, das größer und besser war als alles, was wir heute haben“, sagt Sudár: „Aber was war das für eine Größe? Die Ära von Horthy, der Faschist und Antisemit war, als Bel Époque?“ Miklós Horthy, der sich als Monarch inszeniert hatte, ist bis heute der letzte Bewohner der Burg geblieben.

Orsolya Sudár ist Absolventin der 1991 von George Soros initiierten Central European University (CEU), sie arbeitet für den Budapester Bürgermeister – und ist seit jungen Jahren Aktivistin, damals vor allem für Frauenrechte. „Es an die CEU zu schaffen, war enorm schwer, sie war damals das beste, was man an Ausbildung in Ungarn bekommen konnte“, sagt sie. Als sie 2017 als Doktorandin anfing, begannen dort gerade die heftigen Proteste gegen Orbáns Versuch, die CEU aus Ungarn herauszudrängen.

Das Gebäude der CEU mitten in der Pester Altstadt, ein Bau aus hellen Ziegeln, mit Galerien und durchbrochenen Decken, spiegelt noch den optimistischen Geist der frühen 2000er Jahre, als die Uni mit ihrem Auftrag, die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa zu befördern, ihr Zentrum in Budapest gefunden hatte. Nachdem Orbán 2017 die Bedingungen für die amerikanisch-ungarische Hochschule verändert und sie damit gezwungen hatte, den Lehrbetrieb nach Wien zu verlegen, sind nur noch Forschung und Postgraduiertenprogramme geblieben. „Du fühlst dich sicher, bis du selbst die Zielscheibe wirst“, sagt Balázs Trencsényi, 51, ernst. Er weist auf die Eingangshalle, in der eine Tagung stattfindet: „Wir müssen inzwischen oft untervermieten, um das Gebäude zu halten, das ist ein schmerzhafter Kompromiss.“ Trencsényi ist Geschichtsprofessor und Direktor des Stipendienprogramms „Institute for Advanced Studies“, seit seinem Master 1997 hält er der CEU die Treue. Wöchentlich pendelt er zwischen Wien und Budapest. Seit 2017 ist die CEU im Überlebenskampf. „Man könnte uns als Symbol dafür sehen, wie zerbrechlich der Transformationsprozess ist, an den wir geglaubt haben.“ Für Trencsényi ist klar, dass er weitermacht. „Unser Land als Teil der osteuropäischen Region bewohnbarer zu machen, ist Teil unserer institutionellen DNA. Hier zu bleiben ist zur moralischen Frage geworden.“

Bernadette Conrad

ist freischaffende Kulturjournalistin und Autorin. Gerade lebte sie vier Monate in Budapest. 2023 erschien ihr Roman „Was dich spaltet“ (Transit-Verlag).

Gegenüber der CEU sitzt Géza, Anfang 40, im Café und lernt Vokabeln. Sein Deutsch ist gut – aber noch nicht gut genug, B2 lautet das Zauberwort, das ihn nach Deutschland bringen soll. Nicht dass er dies nötig hätte, der Ökonom arbeitet als Projektmanager bei einem der großen Museen der Stadt. Im Café kostet der Kaffee 1.200 Forint und 200 Forint extra für Hafermilch – das sind fast vier Euro, Berliner Preise. Am Stadtrand von Budapest konnte er eine Wohnung kaufen, 35 Quadratmeter. „Wer es irgendwie schaffte, hat in den 1990er Jahren gekauft, damals war Wohneigentum noch bezahlbar“, sagt er: „Inzwischen hat niemand mehr Geld, um irgendetwas zu reparieren oder zu renovieren.“ Géza, aufgewachsen in der Provinz, hat sich in Budapest etwas geschaffen. Weg will er trotzdem: „In dieser politischen Situation kann es einem nicht gut gehen. Orbán scheint nichts dagegen zu haben, dass kluge Leute das Land verlassen.“ Und falls sich das Blatt nächstes Jahr doch wendet? „Ihnen wird was einfallen“, sagt Géza. „Sie werden in Magyars Geschichte wühlen und irgendwas finden. Vielleicht schaffen sie auch ein Gesetz, dass niemand mit Namen Péter kandidieren darf“. Er lacht das traurige Lachen jener, die seit 15 Jahren die abenteuerlichen Systemumbauten, immer zugunsten des Fidesz, erleben.

Im Frühjahr und Sommer gab es immer wieder Demos gegen Orbán und Fidesz. Wenn ein Polizeiaufgebot die Brückenblockaden verhinderte, zu der Menschenrechtsaktivist Ákos Hadházy aufrief, fand die Demo vor der Brücke statt. Fidesz zeigt Härte, entfernt sich immer weiter vom demokratischen Schein. Der im Mai veröffentlichte Gesetzesentwurf zur „Transparenz des öffentlichen Lebens“ nimmt NGOs und Medien ins Visier, droht mit Existenz ruinierenden Strafen, wenn irgendeine Hilfe aus dem Ausland angenommen wird. „Es war zu erwarten, dass im Blick auf die Wahlen 2026 mit harten Bandagen gekämpft werden würde“, sagt die Journalistin Petra Thorbrietz, die lange in Ungarn gelebt hat. Ihr aktuelles Buch „Wir werden Europa erobern!“ über Ungarn, Viktor Orbán und die unterwanderte Demokratie ist gerade erschienen. Orbán hat 2010 mit einem Mediengesetz eine Propagandamaschine geschaffen, durch die die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft zentralisiert und einem Medienrat unterstellt wird, der ausschließlich mit Fidesz-Mitgliedern besetzt wurde. „Es ist vor allem die EU, die damals hätte wach werden müssen“, erinnert sich Thorbrietz. „In Budapest verfängt die Propaganda kaum“, sagt die Übersetzerin Eva Zádor: „Deshalb mag Orbán Budapest auch nicht.“ Er setzt auf das ländliche Ungarn, das er mit dem Mythos Familie, Christentum, Tradition zu gewinnen versucht.

Wenn ein Polizeiaufgebot die Blockaden auf einer Brücke verhinderte, zu der Aktivist Ákos Hadházy aufrief, fand die Demo vor der Brücke statt.

Die Europäische Union, „Brüssel“, ist zum universellen Feind geworden, der davon ablenken soll, in welchem Maße der Alltag für viele Ungarn zum Überlebenskampf geworden ist. „Die Mittelschicht verarmt“, sagt Zádor. Eine Erzieherin, die vollzeitig arbeitet, verdient 700 Euro im Monat. Es gibt kein soziales Netz. Politologin und Aktivistin Sudár erinnert an das „Sklavengesetz“, das 2018 Arbeitgebern erlaubte, Überstunden nicht zu entlohnen. „Wo war da die Linke, die sich für die sozialen Anliegen einsetzen müsste? Es gibt keine wirkliche Linke.“ Hofft auch sie also auf Magyar? „Natürlich!“ Wie viele andere ist auch sie skeptisch, wofür er letztlich steht. Aber: Er spreche zu den Wäh­le­r*in­nen und nicht zu den Medien, er gehe in Krankenhäuser und Kinderheime, er lege den Finger in die Wunden des total kaputten Systems. Er wird gehört: „Die Stimmung hat sich erstmals seit 2010 wirklich geändert. Die Apathie ist vorbei. Immer mehr Menschen realisieren, wie stark Fidesz das Land beraubt hat.“ Orbán selbst, so sagt die Journalistin Thorbrietz, hat jüngst im kleinen Kreis Verbündeter Zweifel am künftigen Wahlsieg geäußert.

Vielleicht ist das souveräne Bild jener 200.000 Pride-Demonstrierenden, die sich weder von Überwachungskameras noch von Bußgelddrohungen einschüchtern ließen, ein Hinweis auf Ungarns Zukunft.

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