Die vergessenen Juden von Thessaloniki: Überall Schatten
Thessaloniki nannte man einst Jerusalem des Balkan. Dann kamen die Nazis. Die Erinnerungen sind erloschen, die Stadt will griechisch sein.
Nein, das ist nicht die Stadt, in der ich das Licht erblickte / Nein, das sind nicht die Menschen, die ich in meiner Kindheit kannte /.Nein, das ist nicht die Sonne, die früher schien / Das ist auch nicht der Himmel, der mich verzauberte
Und ich glaube, auf einem anderen Planeten zu leben / Wo ich mit jedem Schritt fühle, als ob ich sähe / Schatten, die in unendlicher Zahl paradieren / Und ihr Anblick bewegt mich entsetzlich
Unter ihnen glaube ich bekannte Figuren zu sehen / Von den Alten, meinen Brüdern, zahllosen Freunden / Unter ihnen sind tausend unschuldige Kinder/ Reine Lichter, die die Bestien nicht zögerten auszulöschen
(„Saloniki“ von Shlomo Reubens, August 1966, aus dem Ladino)
An der vierspurigen Uferpromenade in Thessaloniki, wo ein ständiger Strom lärmender Autos das Zentrum erreicht, steht ein siebenarmiger Leuchter. Die Menora ist aus Bronze gegossen, über zwei Meter hoch, ihre Flammen sind wild, und sie verschmelzen mit den menschlichen Figuren, die in ihnen verbrennen. Es ist eine Statue, deren Anblick schmerzt, wenn man sie länger betrachtet.
Hier, am Rande des Eleftherias-Platzes, begannen früher die jüdisch geprägten Stadtviertel Tophane und Salhane. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man hier prächtig verzierte Gebäude errichtet, das Kaufhaus Stein öffnete seine Türen, Cafés und Theater waren um den Platz gruppiert. Manche der Gebäude gibt es noch, eingezwängt zwischen profanen Betonbauten. Der Plateia Eleftherias ist heute ein großer Parkplatz.
Am 9. Juli 1942 um acht Uhr morgens mussten sich auf Befehl der deutschen Besatzer alle jüdischen Männer zwischen 16 und 45 Jahren – zusammen etwa 9.000 Menschen – auf der Plateia Eleftheria versammeln. Es dauerte lange, bis sie, die in langen Reihen anstanden, registriert waren.
Manche der Männer wurden zu gymnastischen Übungen gezwungen, allen war die Einnahme von Getränken und das Tragen von Hüten verboten, und viele fielen in der Hitze des griechischen Sommers in Ohnmacht. Rundherum standen griechische Bewohner der Stadt. Sie glotzten. Am nächsten Tag hieß es in der Zeitung Apoyevmatini, diese Juden seien „Parasiten“, die nun endlich dazu gebracht würden, richtig zu arbeiten.
Es war der Anfang vom Ende der großartigen jüdischen Geschichte Thessalonikis.
Die Angst der Verbliebenen
73 Jahre später sitzt David Saltiel im Konferenzraum des jüdischen Gemeindezentrums. Saltiel, 1931 geboren, groß, kräftig und mit einem gewaltigen grauen Schnurrbart ausgestattet, ist Rabbiner und seit 16 Jahren Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Thessalonikis.
Er erzählt, dass es in der Stadt noch etwa 1.500 Juden gebe. Sie sind sehr ängstlich. Juden und Muslime werden in Griechenland als Fremdkörper wahrgenommen. Vor vielen Jahren, als er Militärdienst leistete, habe ihn ein Offizier gefragt, warum er als Jude nicht in Israel lebe, erzählt Saltiel. „Meine Antwort lautete: Ich bin Grieche!“
Heute litten die Juden ebenso wie alle anderen Bewohner Thessalonikis unter der wirtschaftlichen Depression. „Das Land geht durch schwierige Zeiten“, sagt Saltiel dazu nur. Und schwierige Zeiten sind gute Zeiten für Nationalisten. Zwar sind die Anhänger der rechtsradikalen Partei Goldene Morgenröte noch nicht gezielt gegen Juden vorgegangen, aber vielleicht ist das nur eine Frage der Zeit. „Wir kämpfen gegen sie. Anfangs dachte ich, das sei ein vorübergehendes Phänomen. Aber das war leider nicht richtig.“
Der Staat und die Stadt unterstützen die Juden finanziell nicht. Dabei müsse die Monastiriótes-Synagoge dringend renoviert werden, sagt Saltiel. Er hofft auf Hilfe vom deutschen Generalkonsulat.
Die Synagoge
Die Synagoge steht am Rande des Zentrums, in der Syngroú-Straße. Es ist eine ruhige Gegend, ein paar Kaffeehäuser warten auf Besucher. 1943 befand sich hier ein jüdisches Getto, eingerichtet auf Befehl von Alois Brunner und Dieter Wisliceny, die im Auftrag von Adolf Eichmann die „Endlösung der Judenfrage“ in Thessaloniki in die Tat umsetzten.
Die Monastiriótes-Synagoge wurde von den Nazis nur deshalb nicht zerstört, weil das Rote Kreuz sie als Lager benutzte. Drinnen stehen immer noch die alten Kinostühle, die nach dem Krieg als provisorische Sitzgelegenheiten eingebaut waren.
Davor: Der Diktator Ioannis Metaxas will einen „Neuen Staat“ gründen. Er geht, ähnlich wie die Nationalsozialisten, von der geistigen Überlegenheit seines Volks aus. Die Juden sieht er als potenziell gute Patrioten, die zu Griechenland gehören. Auch deutsche Juden finden in Griechenland Schutz.
Dabei: Metaxas versucht, Griechenland aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten. Im Oktober 1940 überfällt jedoch Mussolini das Land, ein halbes Jahr später wird es von Deutschland besetzt. Juden müssen in Gettos leben und werden in deutsche Konzentrationslager deportiert.
Danach: Die jüdische Gemeinde Thessaloniki verklagt Deutschland 2014 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf eine Entschädigung von 45 Millionen Euro. So viel zahlte die Gemeinde als Lösegeld, um 9.000 Juden aus der Zwangsarbeit freizukaufen. Die Klage wird zurückgewiesen. Von der Deutschen Bahn fordern griechische Juden Entschädigung für die Fahrkarten ins KZ, die die Inhaftierten bezahlen mussten. Auch die Bahn weist Forderungen zurück. Insgesamt fordert Griechenland etwa 300 Millionen Euro Reparationszahlungen.
Die siebenarmige Menora ist die einzige Erinnerung an das ehemalige Getto, und auch sie stand zunächst versteckt in einem Vorort, bevor man sie am zentralen Eleftheria-Platz installierte. Ja, es gibt noch eine Plakette am alten Güterbahnhof, dort, wo die Güterwagen voller Menschen nach Auschwitz abfuhren, und neuerdings ein Mahnmal an der Universität. Aber das ist alles.
Eine griechische Stadt
Thessaloniki ist griechisch, das verspricht auch die Ausstellung zur Stadtgeschichte im Weißen Turm an der Seepromenade, einem der Wahrzeichen der Stadt, das einst von den Osmanen erbaut wurde. Es scheint, als wolle die Stadt die Erinnerung an ihre früheren Einwohner tilgen, als solle nichts mehr daran erinnern, dass dieses wunderbare Thessaloniki über Jahrhunderte keine griechische, sondern eine jüdische, muslimische und christliche Stadt – in dieser Reihenfolge – gewesen ist. Schon vor Jahren hat man versprochen, an der Universität einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte einzurichten. Es ist bei dem Versprechen geblieben.
Dort, wo heute die Aristoteles-Universität steht, befand sich einmal der jüdische Friedhof, einer der größten weltweit, mit hunderttausenden Gräbern, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichten. Nichts ist zwischen den Universitätsgebäuden von den Grabstätten geblieben.
Hier geht die Geschichte von den 9.000 Juden weiter, die 1942 auf dem Eleftheria-Platz zur Zwangsarbeit abgeführt wurden. Denn die jüdische Gemeinde unternahm alles, um diese Menschen wieder freizubekommen. Max Merten, Chef der Wehrmachtsverwaltung, verlangte 3,5 Millionen Drachmen.
Das konnten die Juden nicht aufbringen, also nahmen die Deutschen 2,5 Milliarden und beschlagnahmten zusätzlich auf freundschaftlichen Rat des griechischen Gouverneurs Vasilis Simonidis das Friedhofsgelände, auf das die Stadt schon lange ein Auge geworfen hatte. Aus Grabsteinen wurde Baumaterial. Bis heute finden sich immer wieder Grabsteine in der Stadt – etwa wenn man beim Renovieren den Putz eines Hauses entfernt.
Nach dem Krieg blieb das Gelände wie selbstverständlich im Besitz der Stadt. Eine Entschädigung hat damals niemand bezahlt, weder die Griechen noch die Deutschen. Erst 2010 bequemte sich die Athener Regierung zur Zahlung von rund zehn Millionen Euro. Eine Schadenersatzklage gegen Deutschland ist noch immer nicht entschieden. Es sieht nicht gut aus.
Einige der Grabsteine stehen heute im Erdgeschoss des kleinen Jüdischen Museums, das die Gemeinde aus eigenen Mitteln unterhält. Erika Perahia Zemour, eine kleine, schwarzhaarige Frau, kennt ihre Geschichten, sie weiß um jeden einzelnen Stein.
Vertrieben aus Spanien
Doch aus den hebräischen Buchstaben, die in die Steine gemeißelt sind, kann auch sie nur mit Schwierigkeiten einen Sinn herauslesen. Denn sie sind in Ladino verfasst, einer Sprache, die auf das Spanische zurückgeht. Von dort sind die Juden Thessalonikis einst im 15. Jahrhundert gekommen, vertrieben von den christlichen Herrschern Ferdinand und Isabella und willkommen geheißen von den muslimischen Osmanen aus Konstantinopel.
20.000 Sepharden – spanische Juden – sollen es gewesen sein, denen der Sultan eine neue Existenz in der damals menschenleeren Stadt anbot. Und die Juden blieben. Sie sprachen weiter Ladino, und auch die Muslime und Christen Thessalonikis verstanden Ladino und konnten sich mit den Juden verständigen. „Meine Eltern stammen aus der ersten Generation, die Griechisch sprach“, sagt Erika Perahia Zemour.
Schon im 16. Jahrhundert bildeten die Juden neben Christlich-Orthodoxen und Muslimen in Thessaloniki die Mehrheit der Stadtbevölkerung. Thessaloniki entwickelte sich zu einem internationalen Handelszentrum, mit Routen in den Balkan, zur Adria und bis in den Jemen, nach Persien und Indien.
Die Stadt blühte, und die Sepharden engagierten sich keineswegs nur im Handel – sie betrieben Schlachthäuser und eröffneten Läden, gründeten die ersten Druckereien, arbeiteten als Fischer und im expandierenden Hafen und stellten die Uniformen für die Elitetruppe des Sultans, die Janitscharen, her.
Die jüdische Oberschicht stellte ihren Luxus derart zur Schau, dass das Rabbinat im Jahre 1554 anordnete, dass „Frauen außerhalb ihres Hauses, ob auf den Märkten oder in den Straßen, keinen silbernen oder goldenen Schmuck, Ringe, Ketten oder Edelsteine tragen dürfen außer einem Fingerring“.
„Mutter Israels“
Die Rabbiner waren es auch, die eigene Gerichte betrieben, wo die Juden Konflikte innerhalb ihrer Gemeinschaft bereinigen konnten, denn das Osmanische Reich dachte gar nicht daran, sich in die internen Angelegenheiten von Juden oder Christen einzumischen. Aus keiner Stadt außer Konstantinopel flossen so reiche Steuereinnahmen in die Börse des Sultans wie aus Thessaloniki, der „Mutter Israels“, wie die Bewohner ihre Heimat nannten.
Im Winter des Jahres 1644 tauchte in Konstantinopel ein Mann namens Schabbatai Zwi auf, der nichts weniger verkündete, als dass er der lange erwartete Messias der Juden sei. Er trug silberne und goldene Kleider und stützte sich auf ein Zepter.
Der Messias! Die jüdische Welt geriet in Aufregung, die wachsende Schar seiner Anhänger war verzückt, viele Rabbiner empört. Schabbatai Zwi kam auch nach Thessaloniki, er spaltete die Gemeinde und wurde schließlich ausgewiesen. Der Sultan ließ den angeblichen Messias verhören und zwang ihn, zum Islam zu konvertieren.
Das war nicht das Ende einer religiösen Bewegung, sondern deren Beginn. Wollte Schabbatai Zwi die Gläubigen nicht in Wahrheit prüfen?, argumentierten seine Anhänger. Und so folgten ihm hunderte Juden zum Islam. Eine Sekte entstand, die sich Ma’min nannte und von den Muslimen als Dönme bezeichnet wurde. Eines ihrer Zentren wurde Thessaloniki.
An Sonnabenden löscht kein Dampfer seine Ladung
Eisenbahnzüge aus Mitteleuropa, eine dampfbetriebene Getreidemühle, der expandierende Hafen voller Schiffe: Fotos von Thessaloniki an der Schwelle zum 20. Jahrhundert vermitteln das Bild einer rasant wachsenden Metropole am Rande des Osmanischen Reichs.
Besucher von damals gaben sich erstaunt ob der Eindrücke, die sie hier vorfanden: „Ich sah etwas Außergewöhnliches, was ich noch nie sah. Eine jüdische Stadt, eine jüdische Arbeiterstadt“, notierte der junge David Ben-Gurion, später erster Premierminister Israels, während seines Besuchs im Jahr 1911.
Der jüdische Anwalt E. N. Adler, der 1898 anlässlich einer Reise zu den Juden im Orient auch Thessaloniki einen Besuch abstattete, schrieb: „Mehr als die Hälfte der zirka 130.000 Einwohner von Saloniki sind Juden, und drei Viertel des gesamten Handels ist in ihren Händen. Alle Bootsleute des Hafens sind Juden, und an den Sonnabenden können die Dampfer weder einladen noch ihre Ladung löschen. Träger und Schuhmacher, Maurer und Seidenarbeiter, alle sind sie Juden.“
Dutzende jüdische Tageszeitungen wetteiferten in der liberalen Stadt um Leser, darunter gleich zwei linke Blätter. Und auch die Ma’min, jene Nachfahren der Anhänger Schabbatai Zwis, spielten neben Juden, Muslimen und Christen eine wichtige intellektuelle Rolle.
Eine untergegangene Stadt
Wenn der Historiker Evangelos Chekimoglou in seinem schummrigen Büro im ersten Stock des Jüdischen Museums Pläne auf seinem Schreibtisch ausbreitet, sieht man, wie sich Thessaloniki verändert hat. Es sind Zeichnungen mit dem Straßenverlauf der modernen City und Pläne des alten Thessaloniki voller gewundener Gassen, Höfe und Hinterhäuser.
Der 62-jährige Kurator des Museums erforscht eine untergegangene Stadt. Er deutet auf längst verschwundene Bethäuser und Synagogen und sagt, damals habe es wohl Hunderte solcher Einrichtungen gegeben. „Vor hundert Jahren hatte jeder Platz in Thessaloniki auch einen jüdischen Namen.“
Draußen, auf dem weitläufigen Aristotelous-Platz, der sich zur Meerespromenade öffnet und von Prachtbauten aus den Zwanziger Jahren umgeben ist, entsteht für den Besucher der Eindruck, als sei dies ein organisch gewachsenes Zentrum. Doch wer die Stadt erwandert, wundert sich bald über das schachbrettartige Muster seiner Straßen.
Ja, Thessaloniki ist eine griechische Stadt, laut und schmutzig von den tausenden Autos, überfüllt von Passanten, unregelmäßig schwankend in seiner Bebauung zwischen Betonkästen, Resten von Jugendstilelementen und dazwischen eingestreuten orthodoxen Kirchen, heiß und brüllend, quirlig, abschreckend hässlich und wunderbar schön. Aber alt?
Stadtbrand als Schlag gegen die Juden
Der 18. August 1917 war ein heißer Tag gewesen, mit starken Nordwinden, so schreibt es der Historiker Mark Mazower in seinem Buch über Thessaloniki. Am Nachmittag haben die Menschen einen feinen Rauchgeruch in der Nase. Einige der Holzhäuser der Stadt waren in Brand geraten, so wie das fast regelmäßig geschah. Die Feuerwehr rückte aus, behindert von den schmalen Gassen, den vielen Menschen, bepackten Eseln und Leiterkarren. Sie hatte keine Chance.
Das, was als kleiner Brand begonnen hatte, breitete sich immer weiter aus, fraß sich durch die Hinterhöfe, übersprang die Gassen und machte aus dem Zentrum eine Todeszone. Am Ende, nach mehreren Tagen, als man den Fuß wieder in die betroffenen Gebiete zu setzen wagte, war mehr als die Hälfte der Stadt niedergebrannt und restlos vernichtet. Ganz besonders aber traf es die Viertel, in denen besonders viele Juden gelebt hatten und die nun mit ihren wenigen geretteten Habseligkeiten an der Peripherie und ohne Obdach gestrandet waren.
Für den Kurator Chekimoglou vom Jüdischen Museum markiert der Stadtbrand von 1917 den ersten von vielen vernichtenden Schlägen gegen die Juden Thessalonikis. Aus einer Naturkatastrophe entwickelte sich ein von Menschen gemachtes Desaster.
Die Regierung Griechenlands, wozu seit 1912 auch Thessaloniki gehörte, enteignete die Besitzer der Grundstücke, die Betroffenen – nicht zufällig in ihrer großen Mehrheit Juden – erhielten nur kleine Entschädigungen und waren dazu gezwungen, an den Rand der Stadt in Elendssiedlungen umzuziehen. Die ersten Juden wanderten aus. „Es war der erste Schritt, die Juden Thessalonikis zu vergessen“, sagt Chekimoglou.
Bevölkerungsaustausch als nächster Schlag
1923 der nächste Schlag. Griechenland hatte den Krieg gegen die Türkei verloren und einem Bevölkerungsaustausch zugestimmt, nach dem alle griechischen Bewohner Kleinasiens nach Hellas umgesiedelt wurden und die Muslime dafür Griechenland verlassen sollten – eine völkerrechtlich legitimierte ethnische Säuberung. Rund 100.000 griechische Flüchtlinge erreichten Thessaloniki.
Sie kannten die Stadt nicht, sie wussten nichts von ihrer jüdischen Geschichte. Ein erbitterter Konkurrenzkampf entstand, in dem die griechische Seite die Oberhand gewann. Der Sabbat als Feiertag für Thessaloniki wurde 1924 abgeschafft. 1926 riefen rechtsradikale Griechen zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Noch mehr verarmte Juden verließen ihre Stadt, deren ethnische Zusammensetzung ins Wanken geriet. Nun waren die Griechen in der Mehrheit.
Der Nationalismus begann in Thessaloniki heimisch zu werden. Als das höchste Ziel seiner Anhänger gilt die homogene, ethnisch reine Nation in sicheren Mauern. So hatten Muslime in Griechenland nichts zu suchen und Griechen nichts in der Türkei. So begriffen griechische Chauvinisten die Juden Thessalonikis als Fremde, mit denen man nichts gemein haben wollte und durfte.
1931 überfielen Anhänger der antisemitischen Partei Ethniki Enosi Ellados das Cambellviertel. In den Baracken lebten Juden, die 1917 vor dem Feuer geflohen waren. Die Nationalisten zündeten das Viertel an. Wieder zogen viele Juden fort. Zwischen 1908 und 1940 gingen etwa 40.000 in die USA, nach Frankreich, in die Türkei und nach Palästina.
Als die Truppen der Wehrmacht am 9. April 1941 Thessaloniki besetzten, lebten noch etwa 50.000 Juden dort. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde kamen in Haft, die meisten jüdischen Männer mussten Zwangsarbeit leisten. Am 7. Februar 1943 ordneten die Nazis das Tragen eines „Judensterns“ für alle jüdischen Bewohner der Stadt an, die älter als fünf Jahre waren. In 19 Eisenbahntransporten wurden die Juden im Sommer 1943 dann nach Auschwitz, Treblinka und Bergen-Belsen gebracht. Sechs Tage dauerte die Fahrt, 70 bis 80 Personen wurden in einen Güterwagen gepresst.
Nur einer der Gemeinde spricht noch Ladino
Nach dem Krieg kehrten nur 2.000 Menschen zurück. Einige Hundert von ihnen hatten bei den Partisanen gekämpft, andere hatten versteckt überlebt. „Sie fanden ihre Häuser bewohnt vor, und die neuen Bewohner weigerten sich auszuziehen“, berichtet der Historiker Evangelos Chekimoglou. „Sie mussten vor Gericht ziehen, aber solche Prozesse dauerten oft drei bis vier Jahre.“
Etwa die Hälfte gab auf und ging, davon viele nach Israel. So manche einflussreiche griechische Familie soll sich damals an jüdischem Eigentum bereichert haben. Umso besser gediehen bald darauf die deutsch-griechischen Beziehungen.
„Nur noch die Älteren verstehen Ladino, weil es ihnen als Kinder beigebracht worden ist. Aber sie sprechen es nicht mehr“, sagt Chekimoglou. Ein Einziger von ihnen sei in der Lage, die alten Schriften zu entziffern, „und der ist auch nicht jung“.
Die Juden Thessalonikis haben ihre Geschichte verloren. Nicht nur ist das jüdisch geprägte Zentrum für immer vernichtet, nicht nur hat man fast alle von ihnen ermordet, nicht nur ist ihr Friedhof zerstört und nicht nur ist ihre Sprache verschwunden.
Auch ihre schriftlichen Überlieferungen sind gestohlen. Als eine ihrer ersten Aktionen plünderten die Nazis 1941 mit ihrem „Kommando Rosenberg“ alle jüdischen Bibliotheken und Archive der Stadt und entführten das Material nach Deutschland. 1945, nach der Befreiung, nahmen es die Sowjets mit nach Moskau, und dort liegt es, allen Verhandlungsversuchen zum Trotz, noch immer.
Im Obergeschoss des Jüdischen Museums sind Bilder, Dokumente und Alltagsgegenstände ausgestellt. Daneben liegt Chekimoglous Büro. Er sagt: „Jede Schulklasse, die hierherkommt, stellt dieselbe Frage: Haben hier früher wirklich einmal Juden gelebt?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen