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Die unbekannte HeimatDas Como-am-Lago-di-Como-Gefühl

■ Warum sich der Chronist in Vegesack wie ein Urlauber vorkommt und die gefühlte Temperatur glatt um drei Grad höher liegt als in Bremen-Mitte

Neulich hätte ich mich beinahe mit echten Nord-Bremern zerstritten. Ich sagte: „Immer, wenn ich nach Vegesack komme, habe ich Urlaubsgefühle.“ Und ich ergänzte: „Am Utkiek liegt die gefühlte Temperatur um drei Grad höher als in der Stadtmitte.“ Die auch Bremen-Norder genannten Bekannten reagierten auf das Lob wie Bremerhavener. Denn wenn ein Mitte-Bremer oder Bremen-Mitter sie oder ihre Heimat lobt, vermuten sie böse Absichten dahinter. Zum Beispiel Stellenkürzungen im Bibliothekswesen, die Ankündigung einer Theaterinszenierung an einer örtlichen Kultstätte oder eine Schimpfkanonade über den Ihlpohler Kreisel. Aber ich hatte keine derartigen Absichten. Ich erkühnte mich sogar zu der Behauptung, Vegesack sei das Amalfi Bremens, woraufhin meine bemannten Tanten die Stirn runzelten.

Natürlich kann man sich über diesen Namen lustig machen. Schon 1557, als das Gasthaus „thom Fegesacke“ erstmals urkundlich erwähnt wurde, sind Auswärtige aus bereits christianisierten Landesteilen in Vegesack eingekehrt, um sich lustig zu machen. Sie brauchten einander nur anzusehen und ganz langsam „Feeege“ und „Sack“ zu murmeln, schon konnten sie sich eintüten vor Lachen. Wie einer der taz vorliegenden zeitgenössischen Stadtchronik zu entnehmen ist, gruben die noch nicht zum Christentum bekehrten Vegesacker daraufhin den ersten künstlichen Seehafen auf deutschem Boden (1619). Außerdem gründeten sie eine Firma namens „Kistentod“ (altmittelhochdeutsch: „Christentod“), in deren Gebäude das höllische Gelächter der Besucher bald verstummte und das heute den Konzertsaal sowie die Ausstellungsräume des KITO beherbergt.

Mir ist es aber ganz ernst mit Vegesack. Ich empfinde sogar eine aufrichtige Zuneigung für dieses Acapulco des Weser-ufers. Dabei schwärme ich weniger vom Anblick, den man vom Gelände der ehemaligen Lürssen-Werft auf die kleinteilige, sacht an der Düne emporwachsende Bebauung Alt-Vegesacks hat (ich sage nur: Vincent van Gogh „Blick auf Arles“!). Ich schwärme auch nicht von der Grohner Düne, die an die Urbanität Pariser Vorstädte erinnert (ich sage nur: Mehdi Charef „Tee im Harem des Archimedes“!). Nein, mein echtes, privates Nord-Bremer Como-am-Lago-di-Como-Gefühl habe ich nur am Utkiek (ich sage nur: haaaacchhh!).

Am Besten kommt man von der linken Weserseite. Nach den Dörfern hinterm Deich erreicht man Lemwerder, sieht imposante Werften und den bemerkenswerten Kiosk am Deichschart. Menschen mit viel Zeit leben hier, sitzen am Fähranleger und schauen den Fähren beim Anlegen zu. Die Weser verdient hier die Bezeichnung Fluss. Das Übersetzen auf die andere Seite kommt einer Seereise gleich. Und siehe da: Auch auf jener Seite leben Menschen mit viel Zeit, sitzen am Fähranleger und schauen den Fähren beim Anlegen zu. Es ist dieses Schauen, Kommen und Gehen, das Fahren der Fähren, dieser nur vom ruhigen Strömen des Stromes bestimmte Tagesablauf, der einem Touristen im Nord-Bremer Stromboli das Herz höher schlagen lässt.

Nur ein richtiges, echtes, diesen Namen verdienendes Nachtleben gibt es nicht in Vegesack, diesem immer taghellen Uppsala des nördlichen Geestrückens. Das Nord-Bremer Bad Soden-Allendorf ist eben mehr was für Familien. Und für Kurzurlauber aus Bremen-Mitte. Christoph Köster

Lesen Sie in der nächsten oder übernächsten Folge, warum die gefühlte Temperatur in Bremen-Lesum um drei Grad höher ist als in Bremen-Mitte.

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