Die royalen Mountbatten-Tagebücher: Dickie und die Naziverwandschaft
Die Freigabe der Tagebücher durch die britische Regierung ist ein Erfolg. Deutschland könnte sich daran ein Beispiel nehmen.
P remierminister Boris Johnson arbeitet seit längerer Zeit an einem Buch über William Shakespeare. In „The Riddle of Genius“ soll es um „Rassismus, Eifersucht und politische Korruption“ gehen. Alles Themen, mit denen er sich gut auskennt. Was jedoch besonders beeindruckt, ist sein fulminantes Zeitmanagement.
Schon als Bürgermeister der Kleinstadt London schrieb er nebenher „The Churchill Factor: How One Man Made History“. Das Werk bot der Churchill-Forschung nicht wirklich neue Erkenntnisse, aber es ergänzte Johnsons Bewerbungsunterlagen. 2019 bekam er den Job in der Downing Street 10. Seitdem kann er ungestört an seinem Shakespeare-Buch arbeiten.
Es ist für britische HistorikerInnen natürlich erfreulich, einen Premierminister zu haben, der in Literatur- und Zeitgeschichte dilettiert. Aber es gibt ein Problem: Normalen WissenschaftlerInnen stehen in der Regel keine Phalanx von Rechercheuren zur Verfügung, sie müssen eigenständig nach Quellen suchen. Und ausgerechnet die Regierung des Hobbyhistorikers Johnson hat diese Suche behindert.
Jahrelang kämpfte der Biograf Andrew Lownie darum, Einsicht in die Tagebücher von Louis Mountbatten (1900–1979) und seiner Frau Edwina (1901–1960) zu erhalten. Die Familie Mountbatten hatte den Nachlass 2011 für 2,8 Millionen Pfund an die Universität Southampton verkauft. Das Schnäppchen wurde mit britischen Steuergeldern finanziert. Herzstück der Sammlung sind die Tagebücher Mountbattens, doch ausgerechnet die durfte man nur bis zum Jahr 1934 einsehen. Alles andere blieb gesperrt.
Mountbattens Katastrophen im Zweiten Weltkrieg
Aber was ist an Lord Mountbatten (Spitzname Dickie) eigentlich so wichtig? Seine Marine-Einsätze während des Zweiten Weltkriegs und seine Rolle als letzter Gouverneur Indiens 1947/48 gelten als allgemein anerkannte Katastrophen. Netflix-Zuschauer kennen Dickie heute nur noch als IRA-Mordopfer aus der Serie „The Crown“.
In Staffel 4 löst er eine Kettenreaktion aus, nachdem er Prinz Charles brieflich ermahnt, endlich zu heiraten. Kurz darauf jagt die IRA Dickies Boot in die Luft, und der gebrochene Charles beschließt zur Buße, eine Heilige namens Diana zu ehelichen. Damit ist sein Schicksal für alle Zeiten besiegelt.
Dickies fataler Kettenbrief wurde von den Netflix-Drehbuchautoren erfunden und ist daher mit Sicherheit nicht im umkämpften Archivgut. Aber der Grund, warum man bisher nicht an den Rest des Mountbatten-Nachlasses herankam, hat durchaus etwas mit den Royals zu tun: Dickie wird in seinen Tagebüchern private Details über noch lebende Mitglieder der Familie notiert haben.
Vor allem aber wird er über die Kontakte der Royals mit ihrer deutschen Naziverwandtschaft bis 1939 berichtet haben. Es ist daher anzunehmen, dass Dickies Notizen das TV-Gejammere von Meghan Markle um einige Dezibel überbieten. Bisher hatte die Royal Family es immer geschafft, unangenehme Archivalien aus den dreißiger Jahren unter Verschluss zu halten.
Versiegelte Post der deutschen Naziverwandtschaft
In den Royal Archives in Windsor darf man keine Briefe der deutschen Naziverwandtschaft aus der Zwischenkriegszeit einsehen. Auch in den staatlichen Archiven – den National Archives in London – sieht es schlecht für HistorikerInnen aus. Der Public Records Act bestimmt, dass nach 30 Jahren Akten freigegeben werden müssen. Davon werden ein Teil als „geheim“ eingestuft und nicht öffentlich gemacht (Akten der Nachrichtendienste und des Verteidigungsministeriums), aber merkwürdigerweise eben auch Unterlagen, die die königliche Familie betreffen.
Laut den Recherchen des ehemaligen liberalen Abgeordneten Norman Baker sind Hunderte von Akten zu den Royals gesperrt. Daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern, aber der Biograf Andrew Lownie hat jetzt einen großen Sieg errungen. Nach sechs Jahren Auseinandersetzung und 250.000 Pfund Anwaltskosten sind die Mountbatten-Tagebücher Ende Juli – mit einigen Lücken – freigegeben worden. Die Regierung von Boris Johnson hat endlich nachgegeben. Ein Erfolg, mit dem keiner mehr gerechnet hatte.
In Deutschland sollten wir uns daran ein Beispiel nehmen. Bis heute haben bei uns viele Adelsarchive kein Interesse daran, die dort dokumentierte NS-Vergangenheit untersuchen zu lassen und gewähren nur ausgewählten „Vertrauenspersonen“ Zugang. Dass eine solche Archivpolitik nicht mehr zeitgemäß ist, hat jetzt sogar Boris Johnson verstanden.
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