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Die neue Mitte

Die alte Mitte hat endgültig ausgedient. Seit gestern gibt es den neuen Hauptstadtbezirk. Der heißt zwar auch Mitte, doch dahinter steckt im Wesentlichen eins: Der Wedding. Dort boomt die Wirtschaft, dort pulisiert Forschung. Und auch der Italiener ist hauptstadtnobel. Ein Tagesausflug reicht gerade für die wichtigsten Stationen dieser faszinierenden Metropole

von RALPH BOLLMANN

Seit gestern hat die Bundesrepublik eine neue Hauptstadt. „Regierungsbezirk“ – das ist nicht mehr die Gegend um den Gendarmenmarkt mit all ihren altmodischen Restaurants aus dem vergangenen Jahrzehnt. Nein: Die alte „Mitte“ gibt es nicht mehr. Der Minibezirk zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz ist mit den Nachbarbezirken Wedding und Tiergarten zur „neuen Mitte“ fusioniert.

Das Kommando übernehmen jetzt die Weddinger: Mit rund 160.000 Einwohnern ist der einstige Arbeiterbezirk so groß wie seine beiden Fusionspartner zusammen. Irgendwo zwischen Gesundbrunnen und Leopoldplatz wird die Republik ihr neues Zentrum finden. Wo genau, das lässt sich noch nicht sagen. Schließlich ist die Entwicklung zur Kapitale ein dynamischer Prozess, für den auch der alte Hauptstadtbezirk ein ganzes Jahrzehnt benötigt hat. Aber schon jetzt ist der Wedding eine faszinierende Metropole, die es zu entdecken gilt. Kommen Sie mit!

1. Wirtschaftsmetrople

Kaum haben Sie an der Chausseestraße die Grenze überquert, präsentiert sich die neue Mitte schon als quirlige Wirtschaftsmetropole. Zur Linken sehen Sie die Zentrale des Weltkonzerns Schering. Das mit Abstand wichtigste Unternehmen in Berlin und den neuen Bundesländern machte im Jahr 1999 immerhin 7,2 Milliarden Mark Umsatz und erzielte einen Gewinn von 533 Millionen Mark. Bis 2007 soll sich der Umsatz auf 14 Milliarden Mark verdoppeln.

2. Die Piazza

Folgen Sie nun der Müllerstraße. Nur zwei U-Bahn-Stationen weiter gelangen Sie zum Leopoldplatz. Das quirlige Zentrum der neuen Hauptstadt, an dem sich zwei U-Bahn-Linien kreuzen, besitzt die Atmosphäre einer südländischen Piazza – beherrscht von der Nazarethkirche, die Karl Friedrich Schinkel 1832–35 in den Formen der oberitalienischen Romanik baute. Schräg gegenüber der Palazzo Comunale, das Weddinger Rathaus in den klassichen Formen der Zwanziger. Hier können Sie nicht nur die Architektur bestaunen, sondern auch für den Rest des Vormittags in die Welt des Konsums eintauchen. Das berühmte Kaufhaus des Nordens am Leopoldplatz, Flaggschiff des Karstadt-Konzerns, braucht keinen Vergleich zu scheuen. Die legendäre Lebensmittelabteilung bietet Spezialitäten aus aller Welt – anders als die provinziellen Galeries Lafayette in Alt-Mitte, die fast nur französische Produkte führen. Möchten Sie nun über Mittag einen Imbiss einnehmen? Dann gehen Sie doch einfach in die benachbarte Luxemburger Straße. Türkisch, thailändisch, arabisch: Der multikulturelle Wedding bietet Ihnen jede Abwechslung – ganz im Gegensatz zum Einheitsbrei der „Hauptstadtküche“, mit dem sich die Regierenden am Gendarmenmarkt abfinden mussten.

3. Das Silicon Valley

Jetzt sind Sie schon fast im deutschen Silicon Valley angekommen, denn rund um den U-Bahnhof Amrumer Straße dreht sich alles um die Wissenschaft – ein Forschungsstandort von Weltruf! Während in Alt-Mitte das große Bettenhaus der Charité dem drohenden Abriss entgegenbröselt, fehlt es dem hiesigen Virchow-Klinikum an nichts. Trotz vieler Abrisse und Neubauten atmet das riesige Areal noch heute die Atmosphäre jener „Gartenstadt für Kranke“, die Stadtbaurat Ludwig Hoffmann vor hundert Jahren konzipiert hatte.

Auch im angeschlossenen Deutschen Herzzentrum spüren Sie den Pulsschlag moderner Hochleistungsmedizin. Und im benachbarten Robert-Koch-Institut laufen bundesweit alle Fäden der Infektionsbekämpfung zusammen. Zurzeit beschäftigen sich die Forscher vor allem mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Hauptstädtische Funktionen erfüllen auch das Bundesinstitut für Arzneimittel, das Institut für Lebensmitteltechnologie oder das Institut für Gärungsgewerbe.

4. Das Quartier Latin

Das eigentliche Zentrum des Weddinger Quartier Latin ist aber die Technische Fachhochschule, mit ihren mehr als 6.000 Studierenden eine der größten Einrichtungen ihrer Art in Deutschland. Aus vier traditionsreichen Ingenieurschulen hervorgegangen, ist sie heute voll und ganz auf der Höhe der Zeit, vor allem mit ihrem großen Informatik-Fachbereich – einer Disziplin, die Sie in der alten Mitte gar nicht mehr finden werden, weil sie von der Humboldt-Universität längst ins entlegene Adlershof verpflanzt wurde.

Ringsum finden Sie die Infrastruktur, die für ein Uni-Viertel typisch ist – vom Copy-Shop bis zur Buchhandlung. Und natürlich ein lebendiges Kneipenviertel, das sich bis zum romantischen Nordufer erstreckt. Wer einmal im romantischen Deichgraf den Ausblick direkt aufs Wasser genossen hat, der wird der „Ständigen Vertretung“ am schnöden Schiffbauerdamm keine Träne mehr hinterherweinen – zumal gleich nebenan noch der Lindengarten zur Auswahl steht oder, weiter im Landesinnern, das Dettmann.

5. Die Museumsmeile

Haben Sie sich mit einer Tasse Kaffee gestärkt, sollten Sie sich die Weddinger Museumsmeile nicht entgehen lassen. Mit schnöden Kunstsammlungen wie auf der altmittigen Museumsinsel kann in Deutschland jede Exresidenz irgendeines Provinzfürsten aufwarten – aber das Zuckermuseum, das Sie vom Lindengarten mit wenigen Schritten erreichen, ist wirklich einmalig. Auch das Anti-Kriegs-Museum, gleich um die Ecke in der Brüsseler Straße, findet so schnell nicht seienesgleichen. Sollten Sie Souvenirs brauchen, werden Sie im benachbarten Museumsshop gewiss fündig.

Ist Ihr Wissensdurst noch nicht gestillt, können Sie auch das Heimatmuseum an der Pankstraße oder die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße besuchen. Auch für gestresste Eltern ist gesorgt: Liefern Sie im Kindermuseum an der Osloer Straße Ihren quengelnden Nachwuchs ab (als Besucher, nicht als Ausstellungsstück), und entspannen Sie sich im Museumscafé!

6. Der Edelitaliener

Jetzt ist es später Nachmittag, und bestimmt stellen Sie sich die Frage: Wo verbringe ich den Abend? Ist Ihre Brieftasche in hauptstadtfähigem Zustand, dann gibt es darauf nur eine Antwort: in der Enoteca Reale natürlich. Für die neue Hauptstadt ist der Nobelitaliener nahe dem Nauener Platz ungefähr das, was früher das Borchardt war.

Allerdings legt man im Wedding mehr Wert auf Distanz: Hier lässt sich die Prominenz nicht von der Straße auf den Teller gucken, und an der Tür müssen die Gäste erst einmal klingeln. Auch die Pracht des Innenraums sucht ihresgleichen: „Das ist ein venezianischer Palazzo aus Marmor, Alabaster, Bergkristall“, schrieb eine Restaurantkritikerin begeistert. Die venezianische Küche ist ohnehin vom Feinsten, und das zu höchst moderaten Menüpreisen um die hundert Mark.

Natürlich gibt es auch in der neuen Hauptstadt Leute, die es ein bisschen zwangloser mögen. Für sie gibt es, nicht weit von der Enoteca, das Zenit – eine ausgebaute alte Schmiede in einem malerischen Hinterhof mit Kopfsteinpflaster. Sollten Sie in der warmen Jahreszeit wiederkommen, werden Sie im lauschigen Garten schnell vergessen, dass Sie mitten in der Großstadt weilen. Verstehen Sie unter Kultur mehr als nur ein gutes Essen, dann lockt der Max-Beckmann-Saal mit klassischen Konzerten.

7. Das Tor zur Welt

Ihr Hotelzimmer haben Sie gewiss schon vorher reserviert. Kein Problem bei einem wahrlich hauptstadtgerechten Gastgewerbe, das für jeden Geschmack etwas bietet – von der einfachen Pension bis zum berühmten Flaggschiff der Weddinger Hotellerie, dem Holiday Inn Garden Court am Humboldthain. Mehr als 450 Gästezimmer zu Preisen zwischen 60 und 375 Mark pro Doppelzimmer stehen Ihnen zur Verfügung.

Anders als im Adlon am sterilen Pariser Platz logieren Sie im Garden Court mitten im Leben. Gleich gegenüber befindet sich das Gesundbrunnen-Center, mit mehr als 100 Geschäften eine der größten Einkaufspassagen Deutschlands. Vom gleichnamigen ICE-Bahnhof können Sie schon in wenigen Jahren in alle Himmelsrichtungen verreisen – und das in gediegener Atmosphäre, ohne das Geschiebe und Gequetsche am notorisch überfüllten Lehrter Bahnhof.

Sollten Sie sich – trotz des rasant ansteigenden Preisniveaus – länger als einen Tag in der Hauptstadt aufhalten, dürfen Sie sich die Bibliothek am Luisenbad nicht entgehen lassen. Vergessen Sie einfach Hans Scharouns Staatsbibliothek am Potsdamer Platz – lassen Sie sich von der gelungenen Mischung aus Alt und Neu betören, die auch von der überregionalen Architekturkritik hoch gelobt wurde. Während Sie versonnen die gründerzeitliche Prachtfassade des alten Luisenbads bestaunen, plätschert im Hintergrund die Panke.

8. Die grüne Lunge

Ach ja, die Natur: Natürlich ist der Wedding auch die grünste Hauptstadt, die Deutschland je hatte. Lassen Sie die quirlige Metropole hinter sich, und baumeln Sie mit der Seele – im Humboldthain, im Goethe- oder Schillerpark, im riesigen Volkspark Rehberge. Bestaunen Sie dazwischen die Gartenstädte von Bruno Taut oder Ludwig Mies van der Rohe, ein wahres Mekka der Baukunst im 20. Jahrhundert. Und genau in der Mitte zwischen den drei Parks holt die Kultur Sie wieder ein – kurz vor der Grenze zum reichlich provinziellen Reinickendorf setzt das Centre Français de Berlin noch einen hauptstädtischen Akzent.

Wenn Sie die Hauptstadt Wedding am nahe liegenden Flughafen Tegel verlassen, werden Sie gewiss bald wiederkommen. Schließlich haben Sie längst nicht alles gesehen: An der Wattstraße machte die taz in ihrem ersten Redaktionsgebäude einst Mediengeschichte, im Innovations- und Gründerzentrum an der Voltastraße wird noch immer Technikgeschichte geschrieben, und die Osramhöfe an der Osloer Straße zeigen eindrucksvoll die Revitalisierung alter Industriequartiere.

Und vielleicht wollen Sie eines Tages einmal wissen, wie es vor dem Ausbruch des großen Hauptstadtbooms im Wedding einmal ausgesehen hat; dann werden Sie noch immer ein paar Überreste des ursprünglichen Lebens finden – hier einen Kohlenhändler, dort eine heimelige Eckkneipe oder eine Aldi-Filiale, wo die Kunden nach Einkaufswagen anstehen und die Schnapsflaschen unter Verschluss gehalten werden. Wie schreibt doch die Berliner Tourismus-Werbung: „Wer der Berliner Volksseele, der ‚Schnauze mit Herz‘ nachspüren möchte, ist hier richtig.“

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