■ Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert, schreibt der „Spiegel“. Und trotzdem Realität. Auch wenn sie anders geworden ist, als die Linksliberalen sie sich immer wünschten: Die Mühen der Ebene
Es war fürwahr ein seltsames Bild letzten Montag am Zeitungskiosk. Da bescheinigte der Spiegel unter der Schlagzeile „Gefährlich fremd“ das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland – und präsentierte die entsprechende Fotomontage: messerbewaffnete Jugendliche offensichtlich nichtdeutscher Herkunft, Mädchen mit Kopftüchern in der Koranschule und eine junge Türkin mit der türkischen Fahne in der Hand. Ein paar Regale tiefer das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek mit dem Titel: „Deutschland – eine Nation von Immigranten“. Das Foto? Eine Kinderschar, wie man sie in New York oder Los Angeles antreffen könnte. Wer in Newsweek blättert, liest Storys von „Gastarbeiter“- Kindern, die mittelständische Unternehmer geworden sind; von polnischen Immigranten, die in Berlin Restaurants betreiben; von 7,2 Millionen Einwohnern nichtdeutscher Herkunft und von einem Bundeskanzler, der sich vor diesem Hintergrund mit seiner Borniertheit selbst entlarvt: Jawohl, Herr Kanzler, die Erde ist eine Scheibe und Deutschland kein Einwanderungsland.
Wo die US-Reporter in Deutschland eine, wenn auch widerwillige, Bereitschaft konstatieren, sich amerikanischen Selbstverständlichkeiten wie einem Immigrationsgesetz anzunähern, sehen ihre deutschen Kollegen das Land an der Schwelle zur Apokalypse der schwarzen Ghettos in Chicago, Detroit oder Los Angeles.
Blättert man im Spiegel, liest man von türkischen Jugendlichen als „Zeitbomben“, von organisierter Ausländerkriminalität und „Ethno-Fights“ zwischen Türken und Rußlanddeutschen, von einer militanten Islamisierung und der gescheiterten Integration. Jetzt hat also auch Deutschlands größtes Nachrichtenmagazin im Focus der Gesellschaft gefunden, was Hans Magnus Enzensberger schon vor einigen Jahren mit seiner Monatskarte entdeckt haben wollte: ein Mini-Bosnien in jedem U-Bahnwaggon. Natürlich darf dann der Hinweis auf Samuel Huntingtons Bestseller „Kampf der Kulturen“ nicht fehlen, wonach militärische Auseinandersetzungen in unserem Zeitalter durch Konflikte zwischen Kultur- und Zivilisationsblöcken entstehen.
Der Westen taucht in diesem Szenario fast ausschließlich in der Rolle des Bedrohten auf, während dem Islam eine immanente Gewaltbereitschaft zugeschrieben wird.
Als globales Paradigma ist Huntingtons These weitgehend kritisiert und abgelehnt worden; doch als Erklärung für den „Bürgerkrieg“ im Nahverkehr scheint sie gerade in Deutschland zu taugen. Überraschend ist das nicht. Denn Huntingtons These paßt nicht nur zur Gemüts- und Gefühlslage jener, die Multikulturalismus immer schon als bedrohlich empfanden. Nein, sie entspricht auch genau der Katastrophenstimmung vieler Lehrer, Sozialarbeiter und Erzieher, die im Klassenzimmer oder Jugendtreff von türkischen Jugendlichen mit Berliner Akzent die Vorzüge der Scharia erklärt bekommen, zwecks Schlichtung alltäglicher Gang-Schlägereien die Polizei rufen müssen oder plötzlich feststellen, daß die 15jährige mit den Lernstörungen nächsten Monat zwangsverheiratet werden soll. Wenn dieser Aufprall der Kulturen dann noch mit steter Kürzung staatlicher Gelder für Schulen und Freizeitzentren einhergeht, dann wirft man mit dem Spiegel einen letzten Blick auf die multikulturelle Gesellschaft und stellt ihr den Totenschein aus.
Das Problem ist nur, daß mit dieser Feststellung kein einziges der angesprochenen – und der nicht angesprochenen – Probleme gelöst ist. Die multikulturelle Gesellschaft zum mißglückten Experiment zu erklären ist ungefähr so sinnig wie die Behauptung, die Industriegesellschaft sei gescheitert. Beide sind einfach eine unumstößliche Realität. Um diese zu akzeptieren, muß man allerdings auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums endlich damit aufhören, die multikulturelle Gesellschaft normativ zu definieren. Sie ist per se weder gut noch schlecht, sondern einfach da. Und mit ihr eine wachsende Anzahl von Problemen. Zu denen zählt die zunehmende Beliebtheit autoritärer islamischer Gruppierungen bei deutschtürkischen Jugendlichen ebenso wie die zunehmende Verbreitung einer völkischen Ideologie bei deutschen Altersgenossen – vor allem in den neuen Bundesländern.
Das Perfide an der Huntingtonschen These ist also nicht, daß sie bei der Analyse von Konflikten auf die Bedeutung von ethnischen und kulturellen Bindungen, von Religion und moralischen Wertvorstellungen hinweist. Das Perfide ist vielmehr, daß sie die Vielzahl von Konfliktursachen auf die Unverträglichkeit von Kulturen reduziert – und von der Ebene des Verhandelbaren auf die Ebene der unausweichlichen und unlösbaren Konfrontation verschiebt.
Zugegeben, das ist bequem: Das (Streit-)Gespräch wird überflüssig, denn die Desintegration ist immer das Problem der „anderen“, womit meist die Türken gemeint sind, die sich ihrerseits mit antiwestlichen und antidemokratischen Tönen in ihre eigenen Identitätsbunker zurückziehen, womit „uns“ wiederum bewiesen wäre, daß sie eben nicht integrierbar sind ... usw. – in diesem endlosen Spiel verfestigen sich die Rollen immer wieder aufs neue. Konzepte gegen die Bildung von Minderheitenghettos à la USA kann man sich sparen, weil erstens kein Geld da ist und sie zweitens ohnehin nicht aufzuhalten sind. Kreuzberg wird South Central, und Mili Görüș übernimmt die Gruselrolle von Louis Farrakhans Nation of Islam.
Die Alternative heißt einsteigen in die Diskussion statt aussteigen. Sie ist wenig attraktiv, weil sich die Gräben in den nächsten Jahren angesichts ökonomischer Verteilungskämpfe jedenfalls nicht verkleinern werden. Maßnahmen wie ein Einwanderungsgesetz und die Reform des Staatsbürgerrechts werden keine Wunder der Harmonie vollbringen. Sie sind längst überfällige Schritte, die in den letzten Jahren auf sträflichste Weise verschnarcht wurden – von einer konservativ dominierten Politik, aber auch vom linksliberalen Spektrum der deutschen Gesellschaft, das nun begriffen haben müßte, daß Multikulturalismus keine Schmusedecke für die linke Identität, sondern ein konfliktreicher gesellschaftlicher Tatbestand ist. Das ist gut so. Jetzt beginnt die Knochenarbeit. Andrea Böhm
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