Die geteilte Hoffnung

In den Achtzigerjahren wurde die zweisprachige Erziehung eingeführt, um deutsche und türkische Kinder gemeinsam zu unterrichten. Heute geht es nicht mehr ums Gemeinsame. An einer Neuköllner Grundschule spaltet das Konzept Kollegium und Elternschaft. Neun Sichtweisen auf einen Konflikt

von SABINE AM ORDE

Die Karl-Weise-Grundschule im nördlichen Neukölln hat eine für die westlichen Innenstadtbezirke fast typische Schülerschaft: Zwei Drittel der insgesamt 331 Kinder, die hier die Schulbank drücken, sind nichtdeutscher Herkunft, manche der Erstklässler können bei der Einschulung kein Wort Deutsch. Um diese Situation zu verbessern, hat die Schule in der Nähe der Schillerpromenade vor 15 Jahren die zweisprachige Erziehung (Zwerz) eingeführt. Doch das Interesse der deutschen Eltern an der deutsch-türkischen Alphabetisierung ist geschwunden, die türkischen Eltern wollen vor allem, dass ihre Kinder schnell Deutsch lernen. Soll man die zweisprachige Erziehung fortführen? Darüber ist in den letzten Monaten an der Grundschule heftig gestritten worden, im Kollegium ist gar von „Krieg“ die Rede. Doch bei dem Streit geht es um weit mehr als die zweisprachige Erziehung.

Der Schulleiter

Klaus Hartung ist ein direkter, undiplomatischer Mensch, wie er von sich selbst sagt. Seit 1984 leitet er die Karl-Weise-Grundschule. Wenn er vom Streit über die zweisprachige Erziehung an seiner Schule spricht, gerät er in Rage. Viele Jahre lang habe er das Konzept aus vollem Herzen unterstützt, weil es für den Kiez richtig war, sagt Hartung. Doch heute sieht er das anders. Heute spricht er von Ghettoisierung im Kiez, von mangelndem Bildungs- und Integrationswillen der türkischen Eltern. Von Deutschen, die aus Neukölln wegziehen oder ihre Kinder zumindest nicht mehr an seiner Schule anmelden. Und davon, dass die zweisprachige Erziehung immer unbeliebter geworden ist, bei Eltern und bei Lehrern. Sein Fazit: Zwerz hat sich nicht bewährt.

Weil er damit kein Gehör fand, hat Hartung einen Brief an Eltern und Lehrer geschrieben, in dem er acht „ketzerische Thesen“ formuliert. Den Verteidigern der zweisprachigen Erziehung wirft er darin fehlende Selbstkritik und Evaluation vor, mangelnde Außendarstellung und Kreativität. Er schreibt von miserablen Deutschkenntnissen türkischer Kinder, die das Leistungsvermögen der Klassen herunterziehen. Und er schreibt: „Viele der hier im Kiez wohnenden Deutschen fühlen sich von den türkischen Mitmenschen bedrängt, ihren Kiez bedroht (siehe Auszug Reichelt aus der Hermannstraße und Einzug türkischer Billiganbieter) und wollen daher diese massive Begegnung ihrer Kinder mit den türkischen Kindern in der Zwerz-Klasse nicht.“ Das hat – auch außerhalb der Schule – für Wirbel gesorgt.

Der Schulleiter setzt auf ein anderes Modell: Er steckt alle deutschen Kinder pro Jahrgang in eine Klasse, gemeinsam mit ihren nichtdeutschen Altersgenossen, die gut Deutsch sprechen. Die anderen Kinder bilden die Parallelklasse und bekommen alle verfügbaren Förderstunden – diese Klasse wird faktisch geteilt. Hartungs Ziel: Er will den nichtdeutschen Kids vor allem Deutsch beibringen und seine Schule für deutsche Eltern attraktiver machen. Zwerz aber zieht derzeit vor allem nichtdeutsche Eltern an.

Die Konrektorin

Margit Natterers Büro ist nur zwei Türen von dem des Schulleiters entfernt, doch zwischen den beiden Räumen scheinen Welten zu liegen. Die stellvertretende Schulleiterin ist auch heute noch eine leidenschaftliche Verfechterin der zweisprachigen Erziehung. Sie hält die vorherrschende Meinung, dass man nichtdeutschen Kindern vor allem schnell Deutsch beibringen muss, für den falschen Weg. Zunächst müsse man die Kinder in ihren Muttersprache fördern, damit die Zweitsprache dann auf einem stabilen Fundament aufgebaut werden kann, sagt sie. Das sei wissenschaftlich belegt. Auch ein Notenvergleich an der Karl-Weise-Schule zeige: Die Zwerz-Klassen schneiden nicht schlechter ab als die ihrer Altersgenossen. „Nach meinen Beobachtungen sind die türkischen Kinder aus den Zwerz-Klassen aber viel gesprächiger und haben ein besseres Sozialverhalten“, sagt Natterer. Die Ursache: Die Kinder fühlen sich durch die zweisprachige Erziehung akzeptiert und haben mehr Selbstbewusstsein. „Und sie haben ein Recht auf ihre kulturelle Identität.“ Wenn man den türkischen Kindern dieses Recht verweigere, „dann steigert man die Attraktivität der Schule noch lange nicht“.

Natterer ist erst nach langem Zögern zu einem Treffen bereit, in ihren Formulierungen ist sie vorsichtig. Das scheint ein Ergebnis des Klimas an der Karl-Weise-Schule zu sein. Wie sie das sinkende Interesse deutscher Eltern sieht? „Die Schule wirbt nicht offensiv genug“, sagt die Konrektorin. Früher wurden die deutschen Kinder automatisch in Zwerz-Klassen gesteckt, jetzt schreibt eine neue Rahmenrichtlinie die schriftliche Zustimmung der Eltern vor. Die müsse man eben gewinnen. Im Übrigen könne man Zwerz auch mit nichtdeutschen Kindern machen, die gut Deutsch sprechen. Zentral aber sei: „An einer Schule darf man die türkischen Interessen nicht gegen die deutschen ausspielen.“

Die Elternvertreterin

Gabriela Huth ist beim Gespräch mit dem Schulleiter wie selbstverständlich dabei – und die Gesamtelternvertreterin nimmt kein Blatt vor den Mund. Für sie ist klar: Die Zweisprachige Erziehung schadet der Karl-Weise-Schule. Denn das Konzept spreche vor allem Türken an, und schon jetzt kämpfe die Schule mit dem Ruf, „Ausländerschule“ zu sein. „Die deutschen Kinder verstehen die Mehrheit auf dem Schulhof nicht und fühlen sich ausgeschlossen“, sagt Huth, die selbst im Schillerpromenaden-Kiez aufgewachsen ist. Seitdem habe sich das Viertel „drastisch verändert“. Huth spricht von „einer wahren Flucht“ deutscher Anwohner.

Ihr Sohn ist nicht in einer Zwerz-Klasse und darüber ist die Mutter froh. „Das bringt deutschen Kindern nichts, mit Türkisch kann man nichts anfangen.“ Zudem sei die Begegnung mit dem Türkischen auch ohne Unterricht im Kiez sehr massiv. „Die Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nicht ausreichend ausgebildet werden.“ Huth ist der Ansicht, man dürfe viele der nichtdeutschen Kinder gar nicht einschulen. Dazu müssten sie schließlich Deutsch können.

„Unsere Gesellschaft hat lange genug mit der heuchlerischen Höflichkeit in der Ausländerpolitik reagiert“, schreibt sie in einem Brief an den türkischen Elternverein, der sich in den Konflikt eingeschaltet hat. „Es ist endlich Zeit zu handeln.“ Für Huth heißt das: Zwerz abschaffen.

Die deutsche Mutter

Sabine Eilers stimmt einem Treffen gleich am nächsten Vormittag zu, auf dem Spielplatz an der Schillerpromenade. Dort arbeitet sie in einem Kinderladen als Erzieherin. Eilers hält die zweisprachige Erziehung für ein sinnvolles Konzept. „Die Klassen sind ruhiger und sozialer“, sagt sie. „Und die Kinder gehen besser miteinander um.“ Die zweifache Mutter hat den Vergleich: Ihr Sohn, ein Sechstklässler, ist in einer Zwerz-Klasse auf der Karl-Weise-Schule, ihre Tochter, die inzwischen in der 8. Klasse ist, hat eine ganz normale Klasse besucht. „Damals hat mich niemand informiert, dass es Zwerz überhaupt gibt.“

Eilers ist überzeugt davon, dass gerade in einem Viertel wie dem Schillerpromenaden-Kiez das Zwerz-Konzept aufgehen kann – wenn es anders umgesetzt wird als an der Karl-Weise-Schule. Doch die engagierten Lehrer hätten die Schule verlassen, das Kollegium liege im Streit („Ein scheußliches Klima“), bei den Eltern – deutschen und türkischen – sei der Rückhalt minimal, und dagegen würde niemand mit Werbung und Aufklärung angehen. Eilers: „Da ist es nur konsequent, damit aufzuhören.“

Der türkische Vater

Yusuf Secmen ist ein ruhiger Mann, vor dem Gespräch stellt er Obst und Saft auf dem Wohnzimmertisch bereit. Und dann holt er zum Lob auf die zweisprachige Erziehung aus. Secmen hat zwei Söhne, beide gehen auf die Karl-Weise-Schule. Auch weil es dort die zweisprachige Erziehung gibt. „Natürlich wollen wir, dass unsere Kinder Deutsch lernen“, sagt der Vater, der an einer anderen Schule selbst Lehrer ist. „Aber dazu brauchen sie die Muttersprache.“ Secmen ist überzeugt, dass viele andere türkische Eltern zu derselben Auffassung kämen, würden sie nur ausreichend informiert. „Viele denken, Türkisch können die Kinder schon, jetzt sollen sie vor allem Deutsch lernen“. Dass die Türkischkenntnisse dazu nicht ausreichen, sei ihnen nicht bewusst. Secmen hat sich auf einer Elternversammlung für die Fortführung von Zwerz stark gemacht. Er habe seine Ausführungen nicht verstanden, hat ihm der Schulleiter darauf geantwortet. „Fünf Jahre lang hat er mich verstanden“, sagt Secmen, „jetzt bin ich anderer Ansicht als er, und da versteht er mich nicht mehr.“

Der Türkischlehrer

Ahmet Cengiz will gemeinsam mit der Konrektorin über Zwerz sprechen. Der Türkischlehrer ist bei der bilingualen Alphabetisierung an der Karl-Weise-Schule von Anfang an dabei. Er meint, dass die Schulleitung nicht genug wirbt für Zwerz, die so wichtig für die nichtdeutschen Kinder sei. „Es geht auch darum, sie in ihrer Identität zu bestärken“, sagt Cengiz. Wenn ihre Sprache an der Schule nicht erwünscht sei, bekämen sie das Gefühl, selbst nichts wert zu sein. „Türkisch hat kein Prestige.“

Zur Höchstzeit von Zwerz, sagt er, seien insgesamt vier muttersprachliche Türkischlehrer an der Karl-Weise-Schule gewesen. Viele der engagierten KollegInnen, türkische und deutsche, aber hätten sich von der Schule wegbeworben. Heute gibt es noch zwei Türkischlehrer. „Die Personalausstattung ist viel zu knapp“, sagt Cengiz. Türkischunterricht werde abgesagt, weil es keinen Lehrer gebe. Viele der türkischen Kollegen sind inzwischen alt, Nachwuchskräfte aber gibt es nicht. Sie wurden nicht ausgebildet. Das Engagement der Lehrer und ihre Fähigkeit zur Arbeit in einem deutsch-türkischen Team aber, sagen Experten, sei entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg von Zwerz.

Der Elternverein

Ertugrul Mut vom türkischen Elternverein hat mit seiner Familie selbst die klassischen Innenstadtbezirke verlassen. Dennoch haben ihn Hartungs „ketzerische Thesen“ entsetzt. Auf seine Anregung hat der Vorsitzende des Vereins umgehend einen Brief an den Schulleiter geschrieben. „Sie diskreditieren nicht nur die türkischen Kinder und Menschen türkischer Herkunft, sondern fördern darüber hinaus vorhandene Vorurteile gegenüber der türkischen Minderheit“, heißt es darin. Die Aufgabe der Schule aber sei genau das Gegenteil: Kinder für ein friedliches Miteinander in der multikulturellen Gesellschaft zu erziehen. Die zweisprachige Erziehung sei ein wichtiger Schritt dabei.

„Wenn die Schulleitung es will, kann man Eltern für Zwerz gewinnen – deutsche und nichtdeutsche“, sagt Mut , der selbst Lehrer ist. Das würden Schulen wie die Trift-Grundschule in Wedding zeigen, wo das Konzept erfolgreich umgesetzt wird. Mut sieht in der Entwicklung an der Karl-Weise-Schule aber auch eine grundsätzliche Gefahr: dass sich die Schulen zu sehr auf den Wunsch nach deutschen Eltern focussieren – und damit das Wohl der vorhandenen – nichtdeutschen – Schüler aus dem Blick verlieren.

Der grüne Schulpolitiker

Özcan Mutlu kann hitzig werden. Als er von den „ketzerischen Thesen“ Hartungs erfuhr, war er empört. Der Schulleiter vermische die zweisprachige Erziehung mit den Problemen in einem nicht ganz einfachen Kiez und stelle die türkischen Kinder als schuld an der Bildungsmisere dar, kritisierte der schulpolitischer Sprecher der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus. „Die Argumente des Schulleiters haben Stammtischniveau, stigmatisieren eine Bevölkerungsgruppe, vergiften das Schulklima und sind extrem schädlich für das Miteinander“, schrieb er umgehend in einem Brief an Schulsenator Klaus Böger (SPD) und bat diesen, sich einzuschalten. In dem Brief allerdings zitierte er Hartung falsch, aus „bedrängt“ wurde „bedroht“. Bei einem Gespräch gerieten die beiden aneinander.

Inzwischen hat Mutlu eine parlamentarische Anfrage an den Schulsenator gestellt. Denn er ist überzeugt: Bei einem solchen Konflikt muss der Schulleiter vermitteln und darf sich nicht auf die Seite der deutschen Eltern schlagen. Schlimmer noch: „Der Schulleiter hetzt die deutschen Eltern gegen die türkischen auf“, sagt Mutlu.

Der Schulsenator

Klaus Böger setzt auf das gezielte Deutschlernen. „Das hat eindeutig Priorität“, betont der SPD-Schulsenator. Zwerz ist seiner Ansicht nach bestenfalls für einen kleinen Teil der nichtdeutschen Schüler sinnvoll. Aus dem Konflikt an der Karl-Weise-Schule aber hält sich Böger lieber heraus. Im Wesentlichen sehe man darin eine schulinterne Angelegenheit, sagt seine Referentin, Angelika Hüfner. Die Entscheidung über Zwerz müsse an der Karl-Weise-Schule selbst fallen.

Durch die kleine Anfrage von Özcan Mutlu aber musste sich Bögers Verwaltung mit Hartungs „ketzerischen Thesen“ befassen. Das Schreiben enthalte subjektive Bewertungen, aber keine einseitigen Schuldzuweisungen oder die Stigmatisierung einer ganzen Volksgruppe, so das Urteil des Senators. In seiner Antwort an Mutlu heißt es aber auch: „Allerdings hätten auf Seiten der Schulleitung eine andere Form des Diskussionsanstoßes gewählt werden sollen, die weniger Anlass zu Missverständnissen gegeben hätte.“

Kurz vor den Osterferien hat das Lehrerkollegium der Karl-Weise-Schule mit knapper Mehrheit beschlossen, die zweisprachige Erziehung nicht fortzusetzen. Bleibt es dabei, haben die vorhandenen Klassen nach Angaben der Schulverwaltung Bestandschutz bis zur Klasse 6. Jetzt hat die Schulkonferenz das letzte Wort.