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Die eigene Geschichte selbst schreiben„Der Widerstand war nie gebrochen“

In Nienburg interviewen junge Sinti und Sintizze ihre Vorfahren. Ausgangspunkt für das Erinnerungsprojekt war ein ungelöster Kriminalfall.

Geschichts­bewusst: Mitglieder des Jungen Forums gegen Antiziganismus am Nienburger Mahnmal für alle Opfer der NS-Verbrechen Foto: Junges Forum

Bremen taz | Ein kleines Ladenlokal an einer Hauptverkehrsader im niedersächsischen Nienburg. Hier treffen sich seit einigen Monaten junge Erwachsene der Sinti-Community und erforschen ihre Geschichte. Sie führen Interviews, verschriftlichen sie und verarbeiten gemeinsam das Gehörte. „Wir haben ganz viel gehört, bei dem man dachte, dass das noch nie ausgesprochen wurde. Darum ist es umso wichtiger, das auch aufzuschreiben“, sagt Ashanti Brettmann. „Als ich zum Beispiel ein Interview mit meiner Großmutter gemacht habe, habe ich auch von Greueltaten erfahren, bei denen mir die Tränen kamen.“

Jede Familie aus der Minderheit der Sinti und Roma hat Vorfahren, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden. „Egal in welchem Lager sie gewesen sind, sie haben sich alle gleich gefühlt“, sagt Ginger Laubinger. „Wir haben zum Beispiel die Frage gestellt: Warum glauben Sie, dass Ihre Familie deportiert worden ist? Und es kommt jedes Mal dieselbe Antwort: Hitler wollte ein rein arisches Volk, und wir gehörten nicht dazu.“

Mittlerweile gibt es etliche Forschungsarbeiten und viel Erinnerungsliteratur über die Geschichte der Sinti und Roma. In Nienburg sind die Forschenden ausnahmsweise die Nachfahren der Opfer selbst. „Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft nutzen die Quellen aus der Mehrheitsgesellschaft, die von der Mehrheitsgesellschaft geschrieben sind“, sagt Maik Claasen. „Aber die größte Quelle für die Geschichte der Sinti und Roma sind doch die Sinti und Roma selbst, die Menschen, die es erlebt und weitergegeben haben.“

Das vom Landessozialministerium geförderte Projekt hat von den jungen Forschenden den Titel „Tschatschepen (Gerechtigkeit, d. Red.) – die Wiedergewinnung der Geschichte der Sinti und Roma“ erhalten. „Wir möchten uns unserer Geschichte selbst bemächtigen“, sagt Claasen. „Wir möchten selbst unsere Geschichte deuten. Das dürfen nicht Menschen über unsere Köpfe hinweg machen, die von unserer Kultur gar keine Ahnung haben.“

Halbherzige Ermittlungen

Claasen befasst sich seit seinem siebten Lebensjahr mit der Geschichte seiner Volksgruppe. Über die Jahre ist er immer tiefer in die Literatur eingestiegen und stellte fest, dass sie meist in einem antiziganistischem Kontext entstand. Den entscheidenden Anstoß für das Zeitzeugenprojekt gaben allerdings eigene antiziganistische Erfahrungen der Nienburger Sinti.

Seit 2008 gilt die Sintezza Mandy Müller als vermisst. Ihre Familie ist überzeugt, dass sie ermordet wurde, doch die erste Ermittlungsgruppe habe nur halbherzig ermittelt. Außerdem habe es in den Akten antiziganistische Formulierungen gegeben. „Wir wissen, dass wir von klein auf mit diesem Rassismus und diesen Vorurteilen leben mussten“, sagt Sabine Müller, die Mutter von Mandy, die auch in dem Projekt mitarbeitet. „Aber was wir seit dem Verschwinden meiner Tochter von den Behörden zu spüren bekommen haben, das ist wirklich menschenunwürdig.“

Im August 2022 forderte eine Demonstration „Gerechtigkeit für Mandy Müller“. In dem Aufruf hieß es, dass „erst auf erheblichen Druck aus der Zivilgesellschaft“ 2016 in Nienburg eine neue Ermittlungsgruppe eingerichtet worden sei. Obwohl die zuletzt eingesetzte Mordkommission laut Nordwest Zeitung davon ausgeht, den mutmaßlichen Täter ermittelt zu haben, ist bislang keine Anklage erhoben worden.

Das Engagement für die Aufklärung des Falles hat zur Gründung des Vereines „Junges Forum gegen Antiziganismus“ geführt. „Mit diesem Rassismus wurde nicht nur der betroffenen Familie, sondern wirklich allen Sinti und Roma die Menschenrechte und die Menschenwürde genommen“, sagt Claasen. „Und das ist auch im Nationalsozialismus und viele Male davor und danach passiert: dass man einfach keine Gleichbehandlung erfährt.“

„Die Lebensfreude, die unsere Menschen hatten“

Irgendwann ging es den Forschenden auch um Fragen wie: „Wo kommt dieser Antiziganismus her?“ und „Wie haben ihn unsere Vorfahren erlebt?“. Da nur noch wenige der direkt vom Nazi-Terror Betroffenen leben, werden auch die Angehörigen der zweiten Generation interviewt. „Für mich persönlich war das Wichtigste, das ich aus diesen Interviews mitgenommen habe, der Wille unseres Volkes zu überleben und zu leben“, sagt Claasen.

„Der Widerstand war nie gebrochen“. fährt er fort. „Die Lebensfreude, die unsere Menschen irgendwann auch wieder hatten, obwohl sie so stark traumatisiert waren. Die Menschen, die aus der Hölle der Konzen­trationslager kamen und es geschafft haben, eine neue Familie aufzubauen und zurück ins Leben zu finden, zeigen uns: Wenn wir zusammenhalten, können wir wirklich alles schaffen.“

Unterstützung erhalten die Nienburger Sinti auch vom einstigen Stadt- und Kreisarchivar Thomas Gatter, der sich seit Jahren für die Erinnerungskultur engagiert. „Mich interessieren die unterschiedlichen Formen von Widerstand“, sagt Gatter. „Vom offenen Aufstand wie im Mai 1944 in Auschwitz-Birkenau bis zur Kommunikation in den Lagern, die es trotz der Repression möglich gemacht hat, sich untereinander zu verständigen. Es ist für die nachfolgenden Generationen wichtig zu sehen, dass man eben nicht alles so hingenommen hat, wie es meist berichtet wird.“

Erschwert wird die Arbeit durch das aktuelle politische Klima. „Seit den Erfolgen der AfD und erst recht nach der Geschichte mit der Remigration haben viele wirklich Angst, sich interviewen zu lassen“, sagt Claasen. „Sie sagen sich: Ich sterbe in ein paar Jahren, aber meine Enkelkinder, die werden dann vielleicht irgendwann wieder deportiert. Darum gibt es bei uns auch die Möglichkeit, sich anonym interviewen zu lassen.“

Bis September will die Projektgruppe ihre Interviews und Literaturrecherchen abschließen und für die Veröffentlichung aufbereiten. Geplant sind neben einem Buch auch mehrere Workshops und eine Ausstellung.

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