: Die eigene Geschichte im Spiegel der Ahnen
Jean Rouaud schreibt seine familiengeschichtlich kodierte Autobiografie fort. In „Der Porzellanladen“ verarbeitet er den Tod der Mutter
Indirekt ist jede Literatur immer auch Selbstporträt des Autors, insofern ein Werk die geistige Physiognomie seines Verfassers bildet. Autobiografische Literatur operiert in dieser Hinsicht direkter: Ihr Gegenstand ist das Autoren-Ich.
Der französische Romancier Jean Rouaud (Jahrgang 1952) hat einen Mittelweg zwischen diesen beiden Möglichkeiten gewählt, indem er in seinen viel beachteten Romanen „Hadrians Villa in unserem Garten“ und „Die Felder der Ehre“ das Leben seines Vaters und seines Großvaters rekonstruierte, um im Spiegel dieser Ahnengalerie seine eigene Geschichte erzählen zu können.
Nach dem Tod seiner Mutter hat Rouaud nun sein Projekt einer familiengeschichtlich kodierten Autobiografie – die natürlich auch zugleich Biografie einer ganzen Generation ist – fortgeschrieben .In der aus seinen Vorläufern bekannten Collagetechnik diverser Quellen (Erinnerungen, Briefe, Fotos, Hörensagen) erzählt der nun erschienene Roman „Der Porzellanladen“ deshalb auch konsequenterweise nicht nur die Geschichte der früh verwitweten Frau, die in einem französischen Provinzkaff mit eiserner Disziplin einen Haushaltwarenladen führt und damit die Familie über Wasser hält.
Es geht hier vielmehr auch sehr wesentlich um das Spannungsverhältnis des Erzählers zur Mutter als der Person, die in ihrer spröden Sachlichkeit der Entfaltung gerade des literarischen Projekts im Weg stand: „Bald wirst du nicht mehr unter ihrer Aufsicht arbeiten, du wirst sie in deinen Büchern auftreten lassen können, nachdem du sie bisher verschont hast, weil du ihre Reaktion scheutest.“
Der Tod der Mutter ist also eine Befreiung, insofern sie den Autor von Rücksichtnahmen entbindet. Und indem der Autor die Gestalt der Mutter entwirft, entdeckt er wiederum sich selbst – und umgekehrt: „Danach fällt dir auf, was an dir direkt von ihr ist. Eine Bewegung, eine Haltung, und es erfüllt dich mit Glück, tief in deinen Zellen verborgen einen intakten, lebenden Teil deiner Mutter zu entdecken.“ Rouaud löst Familienpsychologie in eine Mischung aus Anekdoten und essayistischen Sentenzen auf, wobei er proustisch mäandernde Satzungetüme konstruiert. Diese sind jedoch kein stilistisches Imponiergehabe, sondern bilden syntaktische Entsprechungen der rhizomatisch verzweigten familiären Strukturen. Manche Bemerkungen deuten darauf hin, dass Rouaud mit diesem Buch sich erst am Anfang seines Projekts sieht, dass er erst jetzt „zum Original“ werden kann.
Denn beim Tod einer Mutter ist es „die Prägeform, die plötzlich zerbricht, ab jetzt kann man nicht mehr auf den zweiten Anlauf hoffen, ab jetzt ist man unwiderruflich ein nummeriertes, signiertes Unikat und begreift endlich, dass es das eigene Leben ist, womit man hantiert, dass jeder Kratzer, jeder Missgriff, jede Korrektur als Makel sichtbar bleibt, dass es keine Reinschrift in einem zukünftigen Leben gibt, kein Umarbeiten, weil die Matrize nicht mehr da ist und man selbst zum Original wird.“
Wenn demnach die sehr lesbaren, manchmal an Truffauts Filme erinnernden Romane Jean Rouauds bislang nur Vorspiele waren, hätten wir von diesem Autor das Beste noch zu erhoffen.
KLAUS MODICK
Jean Rouaud: „Der Porzellanladen“. Aus dem Französischen von Josef Winiger. Piper Verlag, München 2000, 201 Seiten, 36 DM
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