Die deutsche Elf vor dem EM-Start: Und wo ist die Idee?
Das DFB-Team geht mit einem starken Kader in das letzte Turnier von Joachim Löw. Für welchen Fußball sein Team steht, weiß keiner so ganz genau.
Natürlich werden die Deutschen nicht Europameister. Sie wissen ja noch nicht einmal, wie sie spielen wollen. Es gibt keine Idee. Besser: Joachim Löw hat so viele Ideen, dass er sich in den drei Jahren seit dem blamablen Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft in Russland auf keine dieser Ideen konzentriert hat. Dreierkette in der Abwehr? Viererkette? Grundsatzfragen der Spielausrichtung beantwortet der Bundestrainer mit einem eindeutigen: eigentlich egal.
„Ob Dreier- oder Viererkette“, erklärte er vor dem Testspiel am vergangenen Montag gegen Lettland, „eigentlich bleiben die Prinzipien völlig gleich und die Raumaufteilung muss gleich sein“. Ob man also mit Außenspielern die Seitenlinien beackert oder im Mittelfeld Platz für kreative Spieler schafft, ist demnach wurscht. Hmm. Das kann doch nichts werden.
Kreatives Potenzial
Apropos Mittelfeld. Klar, mit diesem kreativen Potenzial müssen die Deutschen um den Titel spielen. Links Kai Havertz, den auch mal Leroy Sané ersetzen könnte, rechts der nach der WM aussortierte Rückkehrer Thomas Müller. In der Mitte dann noch Kroos, Gündoğan und der nimmermüde Motor des FC Bayern München, Joshua Kimmich. Dann ist da noch Leon Goretzka. Wenn der nach seiner Verletzung wieder fit ist, müsste man glatt noch einen Platz im Mittelfeld freimachen, um Timo Werner und Serge Gnabry in der Spitze mit Pässen beliefern zu können. Das muss ja etwas werden. Kicken können sie nun wirklich, die Deutschen.
Aber nein, so wird das nichts. Vielleicht gegen Ungarn. Aber gegen die anderen Gruppengegner Frankreich und Portugal? So viele Plätze sind ja nicht frei in so einem Mittelfeld. Und wieder fehlt eine Idee. Es könnte kommen, wie so oft in den vergangenen Jahren: Am Ende spielen die, die irgendwie schon immer gespielt haben. Gut möglich, dass Kroos und Gündoğan einfach auf den Platz gestellt werden, weil man sich an sie gewöhnt hat.
Dass sie beim schmachvollen 0:6-Nations-League-Desaster gegen Spanien in der Arbeit nach hinten nicht gerade überzeugt haben, was soll’s? Und Kimmich, der das Spiel der Gegner abfangen kann und das Spiel der eigenen Mannschaft so trefflich zu eröffnen weiß, der muss dann eben raus auf die rechte Seite. Da hat er zwar schon oft gespielt, aber so richtig gerne macht er es nicht. Wäre es nicht Aufgabe des Bundestrainers gewesen, jemanden für diese Position aufzubauen. Der Wolfsburger Ridle Baku soll ja ganz gut sein. Nicht nur beim jüngsten EM-Triumph der U21 ist er positiv aufgefallen.
Von Neuaufbau war sowieso viel die Rede seit dem 2018er Debakel. Gewagt hat ihn Joachim Löw nicht wirklich. Das jeweils nächste Turnier hat die Arbeit dominiert. Die Nations League, noch einmal die Nations League und dann die Europameisterschaft. Immer ging es um den schnellen Erfolg. Eine Mannschaft etwa für die Heim-EM in vier Jahren aufzubauen, das ist Löw nicht wirklich angegangen. Und nach dem Turnier geht er.
Das immerhin scheint zu einer gewissen Lockerheit im Team beizutragen. Von der arroganten Grundhaltung des Titelverteidigers, mit der das Team in die WM nach Russland gereist war, ist nichts mehr zu spüren. Nun ja, wer ein WM-Qualifikationsspiel gegen Nordmazedonien verliert, der sollte sich zusammenreißen. Jetzt gilt es einen netten Abschied für Joachim Löw, der die Nationalmannschaft seit 2006 trainiert, zu gestalten. Vielleicht geht das ja ohne Idee, weil alle irgendwie Lust darauf haben – auch die zunächst aussortierten Weltmeister Müller und Mats Hummels. Und vielleicht spielt es sich ohne Idee besser, wenn hinterher mit Hansi Flick eh ein anderer mit anderen Vorstellungen kommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus