piwik no script img

Die Welterklärerin

Sylke Tempel hat jahrelang aus Krisengebieten berichtet und war eine außenpolitische Institution. Nun kam sie beim Sturm „Xavier“ ums Leben

Gern gesehener Talkshow-Gast: Sylke Tempel Foto: Karlheinz Schindler/dpa

Von Silke Mertins

Sich mit Sylke Tempel zu verabreden war immer ein schwieriges Unterfangen. Als Moderatorin und Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik war sie so gefragt, dass sie ständig ausgebucht war. Auch am Sturmnachmittag vom vergangenen Donnerstag kam sie von einer solchen Veranstaltung mit Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Die 54-Jährige hat jahrelang als Korrespondentin mitten im nahöstlichen Krisengebiet gelebt und ist auch danach in der Welt viel herumgekommen. Dass sie zu Hause in Berlin von einem umstürzenden Baum erschlagen wurde, erscheint auf eine beklemmende Weise unwirklich, absurd und bizarr.

Entsprechend geschockt ist die außen- und sicherheitspolitische Community ­– weit über Deutschland hinaus. Denn Tempel hat sich in ihren Jahren als Chefredakteurin des Magazins Internationale Politik unglaublich gut vernetzt. Unter ihrer Leitung ist das Fachblatt außenpolitisch ähnlich einflussreich geworden wie Foreign Policy in den USA.

Autorität in Männerbranche

Die in Bayreuth geborene Tempel hat sich dabei zu einer außen- und sicherheitspolitischen Autorität entwickelt – keine Selbstverständlichkeit in einer Branche, in der immer noch sehr stark Männer den Ton angeben. Dass statt der üblichen Altherrenriege von Peter Scholl-Latour über Michael Lüders bis Jürgen Tödenhöfer seit einigen Jahren lieber Sylke Tempel zu TV-Talk-Shows eingeladen wurde, liegt aber nicht nur daran, dass sie eine Frau war.

Tempel hatte ein großes Talent und auch einen gewissen missionarischen Eifer, den Menschen nahe zu bringen, wie die Dinge international zusammenhängen. Sie war eine eloquente und engagierte Welterklärerin. Deswegen arbeitete sie auch so gern mit jungen Leuten, unterrichtete an der Berliner Außenstelle der Stanford University und hat eine ganze Reihe von Jugendbüchern geschrieben. Darunter: „Globalisierung, was ist das?“ oder „Wir wollen beide hier leben“ über ein palästinensisches und ein israelisches Mädchen in Jerusalem.

Tempel kannte sich in Nahost, Europa und den USA sehr gut aus, aber ihre eigentliche Stärke lag darin, über den Tellerrand regionalen Expertentums hinausblicken zu können – eine seltene Eigenschaft unter Journalisten und Wissenschaftlern. Sie zeichnete sich außerdem dadurch aus, dass sie ein untrügliches Gefühl dafür hatte, was richtig und was falsch ist. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Verständnis für die Annektion der Krim oder Menschenrechtsverletzungen bei den Palästinensern aufzubringen. Sie konnte sich über die Putinversteher, Islamistenversteher und Antisemitenversteher gleichermaßen aufregen und legte sich für ihre Überzeugungen auch mit jedem an, wenn es sein musste.

Tempels Stärke lag darin, über den Tellerrand regionalen Expertentums hinausblicken zu können – eine seltene Eigenschaft

Sylke Tempel hatte allerdings auch irrationale Seiten. Sie glaubte beispielsweise fest an die heilende Kraft der Hühnersuppe. Lag etwa ein befreundeter Diplomat im Krankenhaus, so hatte er damit zu rechnen, dass Sylke Tempel mit Suppe und ihrer Liebsten im Schlepptau hereinrauschte und auf sofortigen Verzehr bestand. Denn wie sollte er sonst schließlich gesund werden?

Freude über Ehe für alle

Genauso intensiv, wie sie sich über die Vereinfacher von Weltpolitik aufregte, konnte sich Tempel aber auch freuen. Ihren letzten großen Freudentaumel erlebte sie kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, als der Bundestag die „Ehe für alle“ beschloss. Auf Face­book watschte sie erst einmal in gewohnter Scharfsinnigkeit alle Gegner der Homo-Ehe ab. Dann verkündete Tempel, sie werde ihrer Lebensgefährtin, „der Liebe meines Lebens“, umgehend einen Antrag machen. Unendlich traurig, tragisch und immer noch unwirklich, dass diese beiden tollen Frauen nun nicht mehr gemeinsam alt werden können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen