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Die WahrheitKleine Fische, großes Fest

Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: Auf dem Kudamm Kreuzbergs sucht Olga mit den dunklen Knopfaugen eine Zuflucht.

Illustration: Anna Zimmermann

Klonk. Kradasch. Klirr. Der Wagen schlitterte auf der Seite liegend über die Straße und krachte mit Wucht gegen einen Mast. Innen rissen die Seile, und die Transportbox glitt durch die offene Hecktür hinaus. Der Deckel sprang auf. Wasser spritzte in alle Richtungen. Und Olga lag benommen auf der Kreuzung.

Warum der Pfleger an diesem weihnachtlichen Abend über den Mehringdamm in Kreuzberg gefahren war, ließ sich später nicht mehr herausfinden. Er war eigentlich schon einen Tag früher erwartet worden. Die Untersuchung der Ermittler ergab schließlich einen, wie es im Polizeijargon hieß, „Alleinunfall vermutlich nach Sekundenschlaf“. Der Fahrer hatte die Kontrolle über den Tiertransporter verloren, war vom Damm abgekommen und hatte seine wertvolle Fracht mitten in Kreuzberg verloren.

Sofort zückten Touristen ihre Geräte und knipsten und filmten wild vor sich hin, während die Einheimischen gelangweilt taten, als ob sie schon alles in ihrem Leben gesehen hätten. Nur Ahmed von der Burger-Braterei an der Ecke, der gerade eine Rauchpause einlegte, drückte seinen Joint aus und schwor sich kopfschüttelnd, endlich mit dem Kiffen aufzuhören: „Fuck! Eine Robbe! In Kreuzberg!“

Olga kam nach ihrer Mutter. Sie hatte keine Taille und war wohlgerundet. Ihr graues Fell glänzte wie ihre schmucken dunklen Knopfaugen, mit denen sie sich jetzt unruhig umsah. Dann schüttelte sie sich energisch und watschelte entschlossen los, hinein in die Bergmannstraße, von der sie nicht wusste, dass sie der Kudamm Kreuzbergs war.

Allein in der Großstadt

Olga stammte aus der Seehundstation Friedrichskoog an der Nordsee und war für den Berliner Zoo bestimmt, als sie allein in die Großstadtnacht gestoßen wurde, die sie nun neugierig erkundete. Lichter, Gerüche und seltsame Gestalten. Wie Finn, der Aki hinterher lief. Aki war wie immer auf der Abendrunde ausgebüxt. Finn hatte den Hund von seiner letzten Freundin übernommen, die ihm eines Tages verkündete, die ganze Gaza-Ukraine-Scheiße nicht mehr ertragen zu können und nach Neuseeland auswandern zu wollen. Oder war es Patagonien?

Aki war eine ehrenwerte Mischung für jede Promenade, nicht groß, nicht klein, nicht hübsch, nicht hässlich, nur ein wenig doof und lieb. Als er Olga auf sich zu watscheln sah, stand er sofort in Flammen, angezündet vom Dachstuhl bis zum Keller, besonders untenrum, wie sein Schwanz zeigte, der sich gar nicht mehr beruhigen wollte – wedel, wedel …

Olga ließ sich nicht gern beschnüffeln, vor allem nicht da hinten. Sie schnappte mit ihren spitzen Schneidezähnen nach Aki, der blind verliebt hin und her sprang, ihre Bisse entflammten ihn nur noch mehr. Langsam wurde es Olga zu dumm und sie sah sich um. Sie roch Salz, und wo Salz war, war Wasser, und wo Wasser war, waren Fische. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Und so folgte Olga dem eindeutigen Duft in einen Hinterhof, der einen Hinterhof hatte und gleich noch einen.

Finn hüpfte wie ein Hase hinter Aki her. Mit seinem Oberlippenbärtchen und den ausrasierten Schläfen und den Pudellocken auf dem Kopf ging er als der perfekte Jungmann durch. Dass ihm seine durchaus zahlreichen Freundinnen nach kurzer Zeit meist den Laufpass gaben, hatte allerdings mit seinem unbedingten Willen zum studentischen Labern zu tun, stundenlang konnte er die aktuelle Weltlage referieren. Und selbstverständlich trug er einen Feudel um den Hals, einen schwarzweißen Spüllappen, „das edle Tuch der Solidarität“, wie er jedem erklärte, der es nicht hören wollte, nicht einmal Aki, der Olga liebestoll in den Hinterhof folgte. Wohl oder übel musste Finn hinterher.

Im letzten Hof angekommen, gefiel Olga das Grau der Mauer nicht wenig, aber nirgendwo war Salz, Wasser, Fisch. Nur dieser lärmende Hund, der vor ihr saß und hechelte. Aufgeregt jankte sie. Von der Wand verstärkt, klang es wie das Jammern einer vergessenen Kindergartenhorde, was Miriam aus ihrer Wohnung hervorlockte: „Alter! Was ist denn hier …?“ Weiter kam sie nicht, denn in dem Moment, als sie den Hof betrat, rauschte Finn um die Ecke und in sie hinein. Plonk!

Demo und Gegendemo

Zwei große Geister treffen sich. Welten prallen aufeinander. Hätte Olga gedacht, wenn sie sich nicht über diese Wesen gewundert hätte, die sich nun ankeiften. Offensichtlich kannten sie sich bereits. Leider, wie Miriam meinte. Ausgerechnet die, wie Finn dachte. Auf einer Demo und Gegendemo vorige Woche hatten sie bereits die Gelegenheit genutzt, sich ausgiebig zu beleidigen. Worte wie „Hamas-Bunny“ und „Bibi-Schickse“ flogen hin und her. Jetzt begnügte sich Miriam mit einem hingerotzten „Du Touri!“, ihrem Lieblingsschimpfwort für alle Touristen dieser Welt, die ihr den letzten Nerv raubten, wo sie doch nur in Ruhe ihre Comics zeichnen wollte.

„Was machst du denn hier?“, konterte er schwach und rieb sich den brummenden Schädel. „Ich wohne hier, du Ghettoblaster. Du kommst wohl aus Neukölln, du …“ Doch weiter kam sie nicht, denn hinter ihr sprang die Tür zum Treppenhaus auf. Eso-Heinz hielt sich mühsam fest: „Sportsfreunde! Immer mit die Ruhe! Wir haben hier ein Problem“, wies er auf Olga hin, die Miriam und Finn fast vergessen hatten, lieber hätten sie sich mit sich selbst beschäftigt.

„Und wir haben noch ein Problem“, deutete Eso-Heinz in Richtung der laut heulenden Sirenen und blau blinkenden Leuchten vorn auf der Straße. „Also ich will die Bullen nicht hier haben. Verkrümeln ist angesagt“, hielt er die Tür auf, hinter der nun alle im Gänsemarsch verschwanden. Miriam, Finn, Aki und zuletzt auch Olga, die es deutlich roch: Salz, Wasser, Fisch.

Eso-Heinz, war gar nicht so eso, sondern eher mati, ein Pragmatiker, auch wenn er einen Floating-Tank hatte, von dem alle im Hinterhaus wussten, dass er dort stundenlang in der Dunkelheit im Wasser schwebte. Er habe kaputte Hölzer, hatte er den Nachbarn erklärt, wobei er die Venen in seinen Beinen meinte: „Immer entzündet, von früher, als ich noch am Ufer gekellnert habe. Nächtelang rumgelaufen und gestanden, keine Ruhe, nie.“ Irgendwann hatte er die Branche gewechselt und viel Geld verdient und von da an lag er bekifft und regungslos in seinem lichtleeren Tank.

„Hier“, drückte er Finn ein paar Scheine in die Hand. „Du läufst jetzt rüber ins Edeka und kaufst erst mal ein paar Fische. Und noch was für uns.“ Finn wagte es erst gar nicht zu widersprechen und rückte eilig ab, während Miriam Aki mit festem Griff bändigte und Heinz Olga in sein Allerheiligstes führte. Vor Freude ongte Olga, als sie den Wassertank entdeckte. „Robb mal rüber, du Nebelhorn!“ Heinz half ihr vorsichtig hinein.

Prall gefüllte Tüten

„Die Bullen sind überall!“, rief Finn, zurück mit zwei prall gefüllten Tüten. In der einen waren Fische, in der anderen drei Flaschen Wein, drei Chipstüten, eine Weißwurst, eine grüne Paprika und eine Möhre. „Wofür sind denn die schlappen Dinger?“, kicherte Miriam, und Finn lief rot an. „He, ich bin Halbire, das sind die Farben von Irland.“ Miriam prustete los, allmählich gefiel ihr der Idiot, der vielleicht doch nicht so idiotisch war.

„Wenn jetzt noch jemand anfängt, Gitarre zu spielen, wird mir ganz blümerant“, drückte Heinz eine kleine Träne weg. „Blümerant?“, fragte Finn. „Slay“, übersetzte Miriam. Mit seinen gichtigen Fingern strich Heinz über die alte Fender, die er lange nicht in Händen gehabt hatte. „Also ich könnte“, meinte Finn und stimmte auch schon die Saiten, um dann zögerlich zu singen: „I feel unhappy / I feel so sad / I've lost the best friend / That I ever had.“

Heinz erkannte es sofort und dachte an Ozzy, der dieses Jahr gegangen war und bestimmt gerade, von weißen Fledermäusen umschwirrt, auf Wolke 666 die Engel in den Wahnsinn trieb. „She was my woman / I love her so / But it's too late now / I've let her go / I'm going through changes / I'm going through changes.“

Miriam sah sich plötzlich umgekehrt auf Finn liegen, er hatte seinen Kopf tief in ihr vergraben und sie … Fisch, freute sich Olga und patschte ihre Flossen zusammen. Es gab keinen Schnee, keine Zimtsterne, nur ein paar Kerzen flackerten. Es war Weihnachten. Und irgendwo bellte Aki.

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