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Die WahrheitEntschuldigung für alles

Uli Hannemann
Kolumne
von Uli Hannemann

Es folgt hier eine gut abgehangene Ego-Beichte von jemandem, der doch glatt die Größe hat, sich zu entschuldigen. Doch für was bloß?

A chtzig Prozent der Menschen können nicht um Entschuldigung bitten“, steht in einer dieser Zeitungen, die offenbar nichts anderes zu tun haben, als ihre Leser schlechtzumachen. Da sind sie bei mir aber an der falschen Adresse. Denn im Gegensatz zur großen, grauen Masse der Charakterschweine könnte ich jederzeit um Entschuldigung bitten, sofort und für alles, nichts leichter als das. Was müssen das für „Menschen“ sein, die das nicht können, denke ich verblüfft. Wo ist das Problem? Die sind ja wohl nicht ganz richtig im Kopf.

Die Sache hat nur einen Haken: Bei mir gibt es nie einen Grund, irgendjemanden wegen irgendetwas um Entschuldigung zu bitten. Denn ich mache selbstverständlich immer alles richtig. Ich sehe keinerlei Sinn darin, warum ich oder überhaupt irgendjemand das anders handhaben sollte? In diesem Punkt trennen mich und den Rest der Menschheit Welten.

Doch es gibt Momente, da zwickt mich der exotische Wunsch, wenigstens ein einziges Mal zu erfahren, wie es sich anfühlen würde, um Entschuldigung zu bitten; umso mehr, da ich, im Gegensatz zur Mehrheit, dazu auch in der Lage wäre. Dafür müsste ich jedoch erst mutwillig eine Entschuldigungssituation herbeiführen, indem ich einen menschlichen Fauxpas begehe. Das ist schließlich die Grundvoraussetzung.

So könnte ich die Frage eines Passanten nach der Uhrzeit falsch beantworten. Wenn es eins ist, sage ich halb eins. Oder wenn es zwölf ist, sage ich halb zwölf. Oder umgekehrt. Prinzip ist klar, nicht wahr? Ich gebe also bewusst eine falsche Antwort. Ich lüge.

Eine Auge zuckt verräterisch

Dabei zittere ich vor Kühnheit, ein Auge zuckt verräterisch, womöglich habe ich unkontrolliertes Nasenbluten. Die schwarze Kulturtechnik der Lüge muss jemand wie ich sich ja erst gegen größte innere Widerstände aneignen. Umso mehr erregt mich der bloße Gedanke daran.

So ein Zivilisationsbruch hat schon was. Man beginnt zu verstehen, warum das Verbrechen so viele anzieht. Ein Uhr. Bämm! Obwohl es erst halb eins ist. Oder, noch krasser, zwölf. Bämm, bämm! Oder, absolut shocking: halb zwölf! Und die Leute nehmen es mir ab, weil sie es müssen, weil sonst niemand da ist, weil sie mir absolut vertrauen. Wie einem Piloten oder einem Arzt, der sie operiert und der sie aber in Wahrheit töten will. Was für eine famose, neue Grenzerfahrung.

Da kündigt sich doch fast eine kleine Erektion an. Das hatte ich ja schon lang nicht mehr. Was für eine dunkle Macht ich besitze. Welche Konsequenzen das für die Leute haben kann. Sie kommen zu spät zum Onkologen oder nehmen ihre Medikamente zum falschen Zeitpunkt ein. Das kann ihr ganzes Leben beeinflussen, ach was, Leben. Sie könnten sterben. Ich bin wie ein böser kleiner Gott.

Und wenn es so weit ist, sage ich: Sorry. Sorry, Leute, ich bitte um Entschuldigung. Weil ich es kann, da ich zu den zwanzig Prozent gehöre, die die Größe dazu haben.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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