Die Wahrheit: Schleifen des Wahnsinns
Wer als Fußballfan gelesen wird, obwohl er statt bei Borussia Dortmund doch in der Eifel war, der hat es auch fern anderer Algorithmen nicht leicht.
E igentlich wollte ich über Whataboutism schreiben, aber es gibt Wichtigeres als rhetorische Taktiken. Zum Beispiel frage ich mich, warum die miesesten Musiker stets mit den größten Autoaufklebern gewürdigt werden.
Nie zierte die Heckscheibe eines Honda Accord der Name Jacques Brel. Nie war dort in riesigen Lettern Amy Winehouse oder Bert Kaempfert zu lesen. Immer sind es Die Böhsen Onkelz, Die Toten Hosen oder Feuerschwanz. Diese Mittelalter-Rockband hätte Deutschland einmal fast beim ESC vertreten, obwohl der Name klingt, als handele es sich um eine Geschlechtskrankheit.
Ich werde oft als Fußballfan gelesen. Vielleicht weil ich ein mittelalter, übergewichtiger Cis-Mann bin, der immer noch gelegentlich Lebenshunger mit Bierdurst verwechselt. Aber Sportereignisse lassen mich kalt. Zufallsbekanntschaften im Zug sagen jedoch Sachen zu mir wie: „Aus Köln kommst du? Da hattet ihr aber echt Pech in Dortmund am Samstag.“ Und ich weiß überhaupt gar nicht, was er meint, und sage: „Sie müssen mich verwechseln, wir waren Samstag in der Eifel.“
Über Politik will ich heute nicht schreiben, das ist viel zu deprimierend. Wenn beispielsweise das Politbarometer mich fragen würde, was ich von der Flüchtlingspolitik halte, müsste ich antworten: Finde ich nicht gut. Und die AfD-Wähler antworten das Gleiche, nur aus ganz anderen Gründen. Der Balken im Politbarometer hätte also überhaupt keine Aussagekraft.
Wenn ich sage: „Ich bin ein besorgter Bürger“, stimmt das auch, nur mache ich mir halt keine Sorgen darum, wann die Reinerhaltung des deutschen Volkskörpers im Stadtbild sichtbar wird. Sondern eher darum, ab wann die CDU und ihr Kanzler unser Grundgesetz zu woke finden.
Wahre Geschichte ohne Moral
Ich war neulich übrigens im Kiosk an der Haltestelle, und es gab neue Besitzer, dem Aussehen und dem Akzent nach kamen sie aus Südasien. Ich komme also nach Hause und sage zu meiner Frau: „Du kennst doch den Kiosk an der Haltestelle. Früher waren da Türken drin, jetzt haben den Ausländer übernommen.“ Das ist eine wahre Geschichte, die hat keine Moral.
In den Achtzigerjahren stritten wir darüber, ob die Umweltverschmutzung oder ein Atomkrieg zur Apokalypse führen. Jetzt sind ganz neue Möglichkeiten dazugekommen. Künstliche Intelligenz zum Beispiel. Der Kampf der Maschinen gegen uns Humanoide hat längst begonnen.
Kürzlich hatte ich ein Passwort vergessen. Der Microsoft Authenticator schickte mich in eine endlose Schleife aus sich ständig wiederholenden Authentifizierungsschritten, in der ich beinahe für immer verschwunden wäre. Die KI wird im Krieg gegen uns keine Flugzeuge abstürzen lassen oder Städte verwüsten. Sie wird einfach jeden Einzelnen geduldig in den Wahnsinn treiben.
Die Aussichten sind düster. Aber ich lasse mir von der Zukunft nicht diesen schönen Tag vermiesen.
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