Die Wahrheit: Auf dem E-Altenteil
Der äußerst elektrisierende Wahrheit-Besuch in einem spannenden Geronto-Zukunftslabor in Gera.
Cosmo Ilienmiz kommt direkt auf uns zu. In seinem Bürostuhl sitzend rollt er uns mit einem Affenzahn entgegen. Wir wollen uns schon mit einem Sprung zur Seite vor dem drohenden Bürounfall hier im thüringischen Gera retten, da kommt der Stuhl mit quietschenden Hartgummirollen zum Stehen. Und das, ohne dass der 21-Jährige irgendetwas, das wie eine Bremse aussieht, betätigt hätte. „Die Sensoren funktionieren offenbar hervorragend“, freut sich Ilienmiz. Zur Begrüßung weist er uns auf einen Kasten unterhalb des Bürositzes hin.
„Da ist die ganze Technik drin. Hier werden Signale aus den Induktionsschleifen im Boden und aus der Sensorik um den Bürostuhl herum empfangen. Gesteuert wird der Stuhl mit einer App“, strahlt er und überreicht uns seine Visitenkarte. „Start up-Stromologe“, steht drauf. Cosmo Ilienmiz lächelt: „Ich habe sechs Klassen in der Schule übersprungen, Abi mit 14 gemacht.“
Das Projekt „selbstfahrender Bürostuhl“ ist eigentlich ein Nebenprojekt von ihm. Sein derzeit wichtigster Auftrag widmet sich der alternativen Energiegewinnung für Menschen. Das Projekt trägt den Namen „HEC – human energy charging“. Anlass ist der steigende Strombedarf einer alternden Gesellschaft. „Herzschrittmacher brauchen Strom. Hirnschrittmacher auch“, referiert der findige Jungwissenschaftler.
Noch speisen sich diese Schrittmacher aus kleinen Batterien. „Noch“, sagt Ilienmiz mit erhobenem Zeigefinger wie in der Schule, „denn die Schrittmacher der Zukunft werden sich ganz einfach im Alltag aufladen lassen.“ Der Geraer hat dafür eine Art Körper-USB-Schnittstelle entwickelt, die sich an einer unauffälligen Stelle beim Menschen implantieren lässt.
Er führt uns zu einer im Rollstuhl sitzenden Schaufensterpuppe und hebt ihren Arm. „Hier unter der Achselhöhle ist der ideale Platz für so eine Steckdose. Das ist ein minimal invasiver Eingriff“, beschwichtigt der Erfinder, der den Forschungsauftrag von Katharina Reiche höchstpersönlich erhalten hat, der Ministerin für Wirtschaft „und Energie“, wie er nicht müde wird zu betonen.
Ilienmiz prognostiziert, dass Zapfsäulen für den Humanstrom im Stadt- und Gesellschaftsbild von morgen allgegenwärtig sein werden. Diese HE-Stationen – HE steht hier für Human Electricity – werden zur Standardausstattung an Café- und Restauranttischen gehören. Auch E-Bike-Akkus sollen mit Anschlussmöglichkeiten für HE ausgestattet werden. Als Notstromlösung können die älteren Biker selbstverständlich auch einen Dynamo zuschalten.
Cosmo Ilienmiz forscht allerdings auch an weitaus unkomplizierteren Wegen, Menschen zu elektrifizieren. Inspiriert von der aufladbaren Zahnbürste, die mittels Induktion geladen wird, hat er ein eigenes Team gegründet, dass an einer kabellosen Lademöglichkeit forscht. Der drahtige Jungwissenschaftler führt uns zu einem Raum mit dem Schild „Senioren mit Sensoren“. Mehrere ältere Damen und Herren patschen ständig ihre Hände auf kleine Flächen und lösen damit viele blinkende Lichter auf Monitoren aus. „Diese ersten Tests mit Fingersensoren, die sich mit Strom speisen, verlaufen schon recht vielversprechend“, bilanziert Ilienmiz. Er nickt zufrieden und vermutet, dass die Umsetzung des Wireless Human Charging, kurz: WHC, in Kürze ansteht.
Die Mikrosensoren sollen dann in die Fingerkuppen eingepflanzt werden. „Ein minimal invasiver Eingriff“, sagt er und formuliert versonnen eine Vision, in der mobile solarbetriebene Ladepads, die in Fahrradlenkstangen, Rollatorgriffe und Gehstöcke integriert sein werden, die Rentner und Rentnerinnen nahezu ununterbrochen unter Strom stehen lassen könnten.
„Ich freue mich sehr auf eine elektrische Gesellschaft“, freut sich Ilienmiz, „in der die Menschen im Mittelpunkt stehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Sensoren und Buchsen sollen in beide Richtungen funktionieren!“
Dauergeladene Omas und Opas
Über die Sensoren lade man dann Strom, über die Achselhöhlenbuchse das eigene Handy. Die dauergeladenen Omas und Opas könnten so wie kleine mobile Kraftwerke eingesetzt werden. „Die Taschenlampe, der Föhn, der Staubsauger. Wenn diese Geräte induktive Rezeptoren erhalten, könnten sie alleine schon funktionieren, wenn man sie nur in die Hand nimmt.“
Plötzlich holt der erfolgreiche Tüftler eine Schneeschaufel aus einem Schrank und gibt sie der Schaufensterpuppe in die Hand. „Erkennen Sie diese wertvollen Synergien?“, fragt er. „Im Winter können wir unsere Strom-Omas und -Opas zu kleinen Schneepflügen aufrüsten“, jauchzt der Stromologe.
Ob das in der Klimakrise noch nötig ist? Aufgeladen mit viel positiver Energie verlassen wir das elektrisierende Geronto-Zukunftslabor von Cosmo Ilienmiz in Gera. Am liebsten würden wir auf der Stelle altern.
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