Die Wahrheit: Die Original-Zeitmaschine™
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Originale“ (6): Bei Zeitreisen bloß nicht auf Billiganbieter zurückgreifen!
Es gibt Menschen oder Dinge, die sind einzigartig. Wahre Originale oder Unikate. Die herausragen aus dem flachen Tal des grauen Alltags. Und dennoch nicht sofort in ihrer außergewöhnlichen Schönheit oder überraschenden Wirksamkeit erkannt werden. Aber dafür gibt es ja die Wahrheit. Die einige Exemplare dieser irisierenden Ausnahmeerscheinungen ins strahlende Licht der Wahrnehmung rückt.
Es begann, wie alle Revolutionen beginnen: mit einem Amazon-Link. „Original Zeitmaschine – jetzt mit kostenlosem Rückversand“, stand da. 4,6 Sterne, 12.387 Rezensionen. „Kam 3 Tage vor der Bestellung an – top Service!“, schrieb ein gewisser Karl H. aus Wanne-Eickel. Ich klickte, denn ich hatte mit der Vergangenheit noch so einige Rechnungen offen. Dass 12.387 Rezensionen nicht unbedingt dafür sprachen, hier das echte Original zu erhalten, ignorierte ich.
Schließlich stand da auch: „Die Original-Zeitmaschine™ ist ein deutsches Qualitätsprodukt.“ Entwickelt in einem obskuren Berliner Coworking-Souterrain, zusammengebaut von schlecht bezahlten Zeitschleifenpraktikant:innen in Brandenburg und finanziert von einem dubiosen Fördertopf für „strukturschwache Regionen mit erhöhter Nostalgiedichte“. Sie sieht ein bisschen aus wie eine moderne Sanitärkabine, riecht ein bisschen wie eine überreife Wursttheke und funktioniert in etwa so zuverlässig wie ein ICE. Aber: Sie fährt. Allerdings nicht unbedingt dahin, wo man will.
Ich wollte als Erstes ins Jahr 2001, um mit meiner damaligen Freundin ein paar Dinge zu klären und vielleicht noch einmal das World Trade Center zu sehen, zumindest im Fernsehen. Gelandet bin ich im Jahr 1348, mitten in der Pest. Habe dort einem Alchemisten erklärt, wie Penicillin funktioniert, woraufhin er mich sofort als männlich gelesene Hexe verbrennen ließ. Zum Glück kam der Rückruf der Maschine rechtzeitig. „Aufgrund eines temporären Wurmlochs kann es zu historischen Streuverlusten kommen“, stand im Kleingedruckten. Danke, Kundenservice!
Damals war es auch schon scheiße
Nach dem dritten Versuch (Weimar, 1923, großer Fehler) wurde mir klar: Die Original-Zeitmaschine™ ist nicht dazu da, die Vergangenheit zu ändern. Sie ist dafür da, uns zu zeigen, dass es damals auch schon scheiße war. Nur halt anders.
Andere Zeitreisende sind mir erst mal nicht begegnet. Aber was dann passierte, war merkwürdig: Es gab Schieflagen auf der Zeitachse. Teile meiner Vergangenheit, die ich gar nicht aufgesucht hatte, hatten sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dabei war ich in diese Teile doch gar nicht gereist!
Das streifte also die Frage nach der Originalität. Von wegen Original-Zeitmaschine™! Es waren einfach viel zu viele Kopien unterwegs. Anders gesagt, der Zeitreisetourismus boomte. Der neoliberale Optimismus hatte eine neue Zielgruppe: die temporär Enttäuschten. Man muss sich die Zukunft eben nur anders vorstellen – am besten als Retrovariante.
Überhaupt stimmte da was nicht – von den Zielzeitpunkten mal ganz abgesehen. Was es brauchte, war erstens: eine Bodyswitch-Taste. Schließlich wollte ich mir ja nicht selbst zusehen, wie ich Dinge machte, wie ich sie eben machte. Ich wollte mich erleben und Dinge verändern. Das nennt sich „Reflexionsbasierte Persönlichkeitsoptimierung“ (RPO). Und zweitens, meine Zeitmaschine sollte die einzige sein. Zeitterroristinnen – verflossene Liebschaften oder Gegner in Sportwettbewerben, die ihrerseits versuchten, die Zeitläufte zu ändern, konnte ich nicht brauchen.
Also los, das wahre, echte Original suchen. Das Original der Originale.
Wenn ich es finde, werde ich es fragen, ob es je wusste, dass es das erste war. Oder ob es nur das Glück hatte, zuerst bestellt worden zu sein.
Unbekannte Quellen flüsterten mir, es stünde im tschechischen Brno auf einem Marktplatz. Es hätte keine Ahnung von der Vergangenheit ihres Standorts, sähe tatsächlich ein wenig aus wie eine öffentliche Toilette und hätte auch kein WLAN, aber sonst sehr gute Erinnerungen.
An dieser Stelle müsste ich weiter berichten, wie diese Zeitreise nach Brno denn gelaufen ist. Aber was soll ich sagen, sie liegt noch in der Zukunft. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Zukunft nicht žižek-esk in sich verschwinden wird, wenn ich in der Vergangenheit in Brno an der Original-Zeitmaschine herumzuschrauben versuche. Aber schaut doch derweil mal auf Amazon, ob ihr sie da noch findet. Hahahaha.
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