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Die WahrheitDer Aktentaschenkrieg

Am Tresen der Stammkneipe fehlte bislang eines der wichtigsten politischen Utensilien, das angeblich sogar gegen einen Atomkrieg helfen soll.

T heo setzte sich an die Theke und stellte die Tasche ab. Raimund staunte. „Du hast Opa Ottos Aktentasche vom Dachboden geholt?“ – „Jawoll“, sagte Theo. „Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Nur eine Riesenportion Glück kann uns mit heiler Haut durch dieses Idiotenkapitel der Weltgeschichte bringen.“

Theos Opa hatte die Akten­tasche ein Leben lang mit auf die Werft genommen. In ihr transportierte er Thermoskanne, Henkelmann und manchmal auch Flugblätter der Gewerkschaft, der er angehörte – auch während der Nazizeit. Dass er trotzdem nie in den Folterkellern der Gestapo verschwand, war ein Glücksfall, den niemand erklären konnte, bis Theo die Aktentasche nach Ottos Pensionierung übernahm und in Achtzigern in die Uni und auf jede Demo mitschleppte: Denn sie, das schwört er, habe dafür gesorgt, dass jeder Wasserwerferstrahl und jede Tränengaswolke von uns weggelenkt wurde.

„Außerdem“, sagte Theo, „brauchen wir zum 80. Jahrestag von Hiroshima alternative Schutzkonzepte, da Trump die doofen Europäer ja nicht mehr beschützen will und Putin jederzeit durchdrehen kann.“ – „Du denkst an ‚Duck and Cover‘?“, sagte Luis. Theo nickte. Sie sprachen von einem amerikanischen Lehrfilm aus den Fünfzigern, in dem man der Zivilbevölkerung riet, im Falle eines Atomkriegs unter einen Tisch zu kriechen oder sich den Kopf mit einer Aktentasche zu bedecken.

„Ob Generalfeldmarschall Pistorius das gemeint hat, als er von ‚kriegstüchtig‘ sprach?“, sagte Raimund. – Theo zuckte die Schultern. „Was bleibt uns übrig? Die Panzer fahren nicht, die Schiffe schwimmen nicht, und der Schutzschirm der Amis ist auch perdu. Wir müssen zu einfachen Mitteln greifen.“ – „Blöd, dass wir die Mistgabeln und Dreschflegel ausm Bauernkrieg weggeschmissen haben“, seufzte Luis. „Von wegen ‚einfache Mittel‘.“

„Dafür hast du dich ja als Aushilfskürassier angeboten“, stichelte Theo. „Wahrscheinlich kriegst du demnächst deinen Einberufungsbescheid.“ Luis schluckte. Er hatte kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ans Verteidigungsministerium zurückgeschickt, weil er für Waffenlieferungen war und meinte, die Anerkennung damit verwirkt zu haben.

„Da“, rief Theo, „Pistorius höchstpersönlich!“ Er zeigte auf Luis’ Handy, das kurz gedüdelt hatte. Luis schaute verständnislos auf das Display. „Das war diese Warn-App, die nie das macht, was sie soll“, sagte er, „keine Ahnung, was das bedeutet.“ – „Ist doch ganz einfach“, sagte Raimund: „Putin hat den Knopf gedrückt!“

Während Theo langsam unter der Aktentasche in die Knie ging und Luis zum nächsten Tisch hinübertapste, bestellte Raimund noch ein großes Bier, weil das die einzige Form von Kriegstüchtigkeit war, unter der er sich was vorstellen konnte.

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Joachim Schulz
Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.
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