piwik no script img

Die WahrheitDeep State im Telefon

Was mache ich eigentlich die ganze Zeit? Und wie kriegen die anderen das hin? Große Fragen, die mit dem Gebrauch des Smartphones einhergehen.

I m Lauf der Jahre fällt mir auf, dass ich, nach meinem Befinden gefragt, meist antworte: „Schon okay, es ist gerade sehr viel zu tun, wird aber bestimmt bald besser.“ Beziehungsweise „entspannter“, weil alle das immer wollen, denn sonst wird ihnen selbst unbehaglich zumute. Genau genommen funktioniere ich also in etwa wie die katholische Heilslehre oder die Weltrevolution, und wenn ich daran denke, dass die eine die Menschen bis zum Tode hinhält und die andere seit Jahrhunderten auf sich warten lässt, ahne ich, dass „bald“ auch in meinem Leben eher so was wie „nie“ bedeutet.

Das würde mir ja beinahe nichts ausmachen, wenn sich nicht zusätzlich so viele Nebenaufgaben herandrängen würden. Der vollgestopfte Kleiderschrank, die Unkrautplantage formerly known as Garten, die angelesenen Bücher in allen Ecken der Wohnung, all das walzt mich oder jedenfalls meine Laune ab und zu nieder. Verliert man irgendwann seinen Lebensberechtigungsschein, weil man seinen Kram nur „bald“ in den Griff bekommen will? Was mache ich eigentlich die ganze Zeit? Und wie kriegen die anderen das hin?

Die anderen, das sind Sabine und Thomas. Sie begannen als Deep State in meinem Telefon. Schrieb ich Nachrichten und setzte darunter „Grüße von S“, ergänzte die Schlaumaschine immer „Sabine“. Korrigierte ich zu meinem eigenen Namen, fügte die Maschine „und Thomas“ hinzu. So heißt aber mein Liebster nicht; so heißt überhaupt niemand, von dem ich Grüße in die Welt schicke.

Sabine und Thomas sind so wie Kinder im Schulbuch, die immer nur ein Stück Schokolade nehmen, der Mutti helfen und Merz wählen, um so recht zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Sabine räumt ihren Schrank auf und weiß, dass man nicht mehr als fünf Blusen besitzen sollte.

Omas Pullover, vor drölfzig Jahren gestrickt

Dabei kennt sie keine Sentimentalitäten für untragbare Pullover, die die Oma vor drölfzig Jahren gestrickt hat. Sie erscheint mir im Traum und fragt, wie wahrscheinlich es wohl sei, dass ich meine Goethe-Gesamtausgabe noch gründlich studieren werde. Anschließend doziert sie über Glück durch Minimalismus. Mir wäre Glück durch traumfreie Nächte lieber.

Meistens spricht sie aber gar nicht mit mir, sondern wartet still darauf, mein Leben zu übernehmen. Dafür lauert sie hinter jeder Ecke, fleckenfrei angezogen und gut gekämmt, strafmandatsfrei, als grausame Erinnerung daran, dass man alles auch ganz anders machen könnte, wenn man bloß ganz anders wäre. Organisiert, praktisch, unverpeilt und herzlos.

Thomas habe ich allerdings noch nie getroffen. Weil Sabine ihn versteckt hält – sie lässt nur von ihm grüßen –, hoffe ich, dass er in Wahrheit ein peinlicher Schluffi ist, der trotz voller Regale auch noch eine Schiller-Ausgabe gekauft hat, nur weil sie günstig war. Die beiden zoffen sich immerzu. Wenn er eines Tages entnervt aus meinem Telefon hüpft, gewähre ich ihm Asyl.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Susanne Fischer
Autorin
Susanne Fischer schreibt Romane und Kinderbücher und arbeitet als Geschäftsführender Vorstand der Arno Schmidt Stiftung. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Werke Arno Schmidts und der Tagebücher Alice Schmidts sowie der Oevelgönner Ausgabe der Werke Peter Rühmkorfs. (FOTO: THOMAS MÜLLER)
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!