Die Wahrheit: Beknackte Gnadenakte
Personalmangel und Abrechnungsgelüste: Seit dem 15. Januar hält die elektronische Patientenakte unsere Krankheiten im Würgegriff.
Die elektronische Patientenakte ist da! In drei Modellregionen bereits jetzt, endgültig möglicherweise in den nächsten Wochen. Ihre Einführung wird von vertrautem Geräusch begleitet: Die einen sind dafür, die anderen dagegen. Dieses langweilige Spiel spielt die Menschheit von Anbeginn an, nicht wenige Freundschaften sind daran zerbrochen: Während die eine Sorte von Menschen dem Fortschritt nicht im Wege stehen will, wehrt sich die andere dagegen, in diesem Fall mit kariösen Zähnen und arthritischen Klauen. Prominente Köpfe, aber auch Normalos mit Datenschutzfimmel wollen verhindern, dass ihre Laktoseintoleranz oder Leberzirrhose aus Unterhaltungsgründen ins Internet gestellt wird – mit farbenprächtigen Bildern, erschütternden Befunden und vollständigen Rechnungsadressen.
Die Leute, die die elektronische Patientenakte eingeführt haben, haben sich jedoch etwas dabei gedacht. Sie wollen keineswegs die Bevölkerung versklaven. Es liegt ihnen fern, massenhaft vertrauliche Daten zu sammeln, um sie aus Profitinteresse an die Pharma- oder Werbeindustrie zu verhökern. Sie wollen bloß den altmodischen Quatsch mit tausend unterschiedlichen Kladden voller vergilbten Papiers und sensibler Details, die unübersichtlicherweise an vielen verschiedenen Stellen aufbewahrt werden, ein für alle Mal abschaffen und durch einen neumodischen Quatsch ersetzen.
Die elektronische Patientenakte ist mehr als das. Einer ihrer Vorteile ist, dass alles zentralisiert, entbürokratisiert und digitalisiert wird. Man kann sich anderswo erspielte Punktestände anrechnen lassen, etwa aus „Minecraft“, Flensburg oder dem neuen Rewe-Bonusprogramm. Ein anderer Vorteil: Die gesamte Krankengeschichte einer Person kann auf einen Blick nachgelesen werden und verborgene Zusammenhänge preisgeben. Das mag unerforschte Zipperlein reparieren und älteren Gamern einige Zusatzleben verschaffen – am besten mal bei der Ombudsstelle Ihrer Krankenkasse nachfragen! Ein dritter, kaum zu schlagender Vorteil indes: Es ist viel billiger als das jetzige System und birgt ungeheure Einsparpotenziale für die Zukunft.
Das freilich behagt jenen nicht, die sich beharrlich gegen jede Weiterentwicklung stemmen. Die Patienten wollen in ihrer Mehrzahl weiterhin als Kunden und also wie Könige behandelt werden. Das heißt: Ihnen kann es nicht teuer genug sein. Sie erwarten Fangopackungen, Turbo-Viagra und Chefarztbehandlungen auf Krankenkassenkosten. Sich aus dem Sporturlaub mit dem Hubschrauber zum Hausarzt fliegen zu lassen, ist ihr jährlicher Mindestanspruch, ein Handkuss von der Sprechstundenhilfe ihr monatliches Begehr. Nebenbei schlagen sie feixend noch zehn zusätzliche Massagen für sich raus, ein Boxspringbett auf Rezept und irgendwelche homöopathischen Medikamente, die regulär und privat gekauft 500 Euro in der Woche kosten würden.
Jammer
Im Gesundheitswesen jammern aber ohnehin immer alle. Die Klage scheint des Medizinmanns Lied zu sein – von der Apotheke über den Kurschatten bis zur Stationsleitung. Gleichzeitig zählen wundersamerweise Ärzte zu den höchstbezahlten Berufsgruppen, die Pharmaindustrie zu den profitabelsten Branchen, ihre Referenten zu den spendabelsten aller Referenten und die Krankenkassen-Mitgliederzeitschriften zu den letzten edlen Printprodukten in diesem Land. Kurzum, wer sich aus diesen üppig gefüllten Trögen bedienen darf, lebt offenkundig nicht schlecht. Ausgenommen sind lediglich die fleißigen Menschen, die direkten Dienst am Patienten leisten.
Die Schwestern und Pfleger und Hilfen nämlich werden für ihre Arbeit in Spitälern, Ärztehäusern und Praxen kärglich entlohnt. Sie überarbeiten sich, brennen aus, wechseln den Beruf und sorgen auf diese Weise für den Personalmangel, der das System bis ins Mark zerrüttet. Auch sie haben allerdings während ihrer Dienstzeit über dem andauernden Schmollen ihre eigenen Schrullen entwickelt: Sie pieksen gern anderen Leuten in den Arm, lassen sich selber aber, wie man seit Corona weiß, ungern impfen. Logo! Wer kennt das System, kennt die faulen Heilsversprechen der Heiler gut genug, um ihnen gründlich zu misstrauen? Genau. Und wer weiß, was in den Spritzen drin ist?! Eben. Doch nur die Pharmakonzerne!
Diesen aber wird mit der elektronischen Patientenakte womöglich das Heilwasser abgegraben. Die Controller der Krankenkassen sehen in der elektronischen Akte plötzlich, dass teure Antidepressiva verschrieben wurden, wo eine Ibu gereicht hätte. Dass die Magenschmerzen nicht von der Arbeit, sondern vom regelmäßigen Saufen kommen. Und dass Dr. Eisenbart die Leute zwar nach seiner Art heilt, aber die Lahmen gehen und die Blinden wieder sehen lässt. Dafür reicht jedoch seine Zulassung nicht! Sie gehört ihm stante pede entzogen.
Grab
Damit schaufeln sich Pharmagiganten und Krankenkassen ihr eigenes Grab. Wenn nur noch lautere Mediziner mit hehren Absichten rumdoktern dürfen, implodiert das System und gibt es nichts mehr abzurechnen. An diesem Punkt scheint die Entwicklung in den Großstädten bereits angelangt zu sein, dort befinden sich Patienten oft schon im Koma, ehe sie einen Termin für ihre Nagelbettentzündung bekommen. Doch auch auf dem Land krepieren die Menschen wegen des Ärztemangels reihenweise, ohne dass es jemand merkt. Ihnen nachträglich einen Beutel Kamillentee hinterherzuwerfen und in der Patientenakte zu vermerken wirkt wie ein Hohn!
Bei all seinen Fehlern ist das System auch für Manipulationen anfällig. Jeder darf an seinem mobilen Endgerät in seiner Patientenakte herumschreiben und nach Herzenslust löschen. Aus der Syphilis wird so ein Schnüpfchen, aus dem Burn-out ein Bäuerchen. Am Ende müssen die Enkel alles richten – nur sie kennen sich mit den ganzen Handys und Apps aus, streichen aber nach der Behandlung auch das Erbe ein. Sorgen um die Sicherheit unserer Daten braucht sich deshalb niemand zu machen. Sie verbleibt weiterhin in der Hand jener Leute, denen wir auch unsere Schufa-Einträge und Atomkraftwerke anvertrauen. Und wurde dieses Vertrauen je enttäuscht? Na also!
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