Die Wahrheit: Der Ampel-Kelch
Die Bundesregierung ist kollabiert. Und niemand weint ihr offenbar eine Träne nach. Oder doch? Ein torkelnder Mann betritt die Straßenbahn.
G ut, dass endlich Schluss ist mit der Koalition. Dieses allumfassende, maßlose Ampel-Bashing wurde mir allmählich etwas anstrengend. Es sollte die vornehmste Pflicht des Satirikers sein, den Schwächeren beizuspringen, was in letzter Zeit aber zunehmend bedeutet hätte, die Regierung zu verteidigen, denn die Leute schimpfen ja schon auf die Ampel, wenn der Chip im Einkaufswagen klemmt oder das Klo überläuft.
Thomas Gottschalk hat Arthrose in der Hüfte? Die Scheißgrünen sind Schuld! Pietro und Laura haben sich getrennt? Nur wegen des Trans-Selbstbestimmungsgesetzes! Die Rolltreppe am S-Bahnhof funktioniert mal wieder nicht? Alles wegen der verdammten Cannabis-Legalisierung!
Ich sitze in der Straßenbahn. Kurz vor Abfahrt torkelt eine heruntergekommene Gestalt am anderen Ende in den Wagen. Der Mann trägt schmuddelige Klamotten und eine geöffnete Schnapsflasche, deren größeren Teil er offenkundig bereits in sich hinein umgefüllt hat. Kaum ist er drin, beginnt er lautstark zu predigen. Zum Glück verstehe ich ihn nicht, denn er lallt erheblich und ist noch einige Sitzreihen entfernt. Nur einzelne Wörter dringen zu mir durch: „Scholz!“ und „die Ampel“, natürlich. Er kämpft sich durch die Bahn und beginnt, auf einzelne Fahrgäste einzureden.
„Die Regierung!“, höre ich, und immer wieder, „der Scholz!“. Möge dieser hochprozentig gefüllte Kelch an mir vorüberziehen, wünsche ich inständig. Aber das tut er nicht. Stattdessen lässt er sich auf den freien Sitz mir gegenüber fallen. Ich schaue bemüht woanders hin, sehe aber aus den Augenwinkeln, dass er mich fixiert. Er nimmt noch einen Schluck. Das ist gut. Wenn er trinkt, spricht er nicht.
Aber dann spricht er doch. Ruckartig reißt er den Arm hoch und ruft: „Die Regierung!“ Er ringt um Worte, vielleicht auch nur mit Schluckauf, dann noch einmal: „Die Regierung …“ Es folgt eine Pause. „Die Regierung …“, versucht er es ein drittes Mal, und jetzt bricht es aus ihm heraus: „… die’s ga nich so schlecht!“
Verblüfft schaue ich ihn an. „Der Scholz“, führt er weiter aus, „is eintlich ’n ganz Vernünftiga.“ Er nimmt einen weiteren Schluck, dann holt er tief Luft, das Sprechen fällt ihm schwer. „Der Scholz macht das schon ganz richtig. Der is besonn’n.“
Ich kann es kaum glauben. Auch die anderen Leute in der Bahn schauen fassungslos zu uns rüber. Der Prediger fixiert seine Schnapsflasche, dann hebt er an: „Läuft doch eigentlich alles in Deutschland. Ich mein: Uns gehts doch gut! Müssta mal ’n andere Länder gucken!“ Jetzt steht er mühsam wieder auf, stellt sich direkt vor mich, fuchtelt mit der Flasche vor meinem Gesicht herum und lallt: „Nee, nee, der Scholz, der macht das schon ganz richtig.“
An der nächsten Haltestelle wankt er aus der Bahn. Die anderen Fahrgäste blicken ihm hinterher und schütteln entgeistert den Kopf. Schon wieder so ein Verrückter! Es wird wirklich alles immer schlimmer.
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