Die Wahrheit: Spätzünder mit Helm
Angst, Misstrauen, Trotz – es gibt tausend Gründe, keine technischen Neuerungen mitzumachen. Und plötzlich ist es dann doch soweit.
I ch bin der absolute Spätzünder, in jeder Beziehung. Natürlich vor allem als Mann. Der erste Kuss? Das hat ewig gedauert. Ich hatte Schiss davor, als wäre es eine Watzmann-Besteigung, und letzten Endes ist es das ja auch. Ich habe ihn damals mehrfach erfolgreich hinausgezögert, genau wie mein „erstes Mal“. Das Einzige, was sofort und beim ersten Mal geklappt hat, war der Führerschein.
Ich war noch nie „ganz vorne dabei“ oder einer der ersten. Egal ob PC oder Laptop – ich hatte noch sehr lange eine Schreibmaschine. Bis ich endlich von meinem Nokia-Knochen mit Tastatur auf ein Smartphone mit „Touch-Screen“ umgestellt hatte, dauerte es ewig. Tippen auf einer Glasscheibe? Wischen? Wie sollte das denn gehen?
Ich habe regelrecht Angst vor allem technisch Neuen. Misstrauen. Trotz. Muss doch nicht auch noch sein. Was soll das? Kapier ich sowieso nicht! Ich hab kein Kind, dass mir das erklärt! Tausend Gründe.
E-Auto, Verbrenner, und wenn ja, doch noch Diesel? Das sind gar nicht meine Fragen. Ich brauche einen Wagen, in dem ich noch CDs abspielen kann. Bis heute kaufe ich die Scheiben. Ich downloade meine Musik nicht und ziehe sie nicht auf den Stick, ich streame nix und habe kein Netflix-Abo.
Ich schaue als wahrscheinlich einziger Mensch überhaupt noch linear Fernsehen. Angeblich hat meine Fernbedienung eine Taste für die Mediathek, aber ich will es sehen, wenn es kommt, und wenn nicht, habe ich es eben verpasst. Dann warte ich auf die Wiederholung.
Lange knatterte ich mit dem Motorrad ohne Helm herum. Meine Mutter sagte, als sie erstmals zu mir aufs Motorrad stieg: „Over ick sette kein Helm up! Ick bin bien Friseur wäsen!“ Also fuhr ich sie durchs Dorf, sie und ich ohne Helm. Hatte ich nicht nötig. Umsichtig, wie ich war.
Aber rund um mich herum stürzen die Menschen. Meine Freundin hatte einen Unfall. Dreifachfraktur im Kugelschultergelenk. Eine Freundin trat neben eine Treppenstufe und brach sich den Oberschenkelhals. Meine Mutter fiel hin, Verdacht auf Beckenbruch. Sogar ich selbst verunglückte. Ich stolperte im Wald und schlug mit der Stirn auf. Ich trat auf einen Kiesel und kippte auf die Straße, ohne wie früher souverän mit Judorolle sofort wieder aufrecht dazustehen. Bei uns allen blieb Gott sei Dank der Kopf heile.
Lange dachte ich: Fahrradhelm tragen nur Eltern, die ein gutes Beispiel für ihre Kinder sein wollen. Inzwischen rasen Autofahrer und E-Biker haarscharf an mir vorbei. Besonders haarscharf übrigens auf dem Stück Weserradweg zu meiner Mutter.
Und nun kommt es: Ich fuhr selbstverständlich immer noch Rad ohne Helm. Aber kürzlich habe ich mir einen Fahrradhelm gekauft. Sieht eigentlich cool aus, fährt sich auch gut mit. Wenn auch spät: Endlich bin ich ganz vorne dabei!
Nur ein E-Bike – das kommt mir nicht ins Haus. So alt kann ich gar nicht werden!
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