Die Wahrheit: Friedenauer Eukalyptusbonbons
Im Berliner Stadtteil Friedenau sind während des Krieges keine Zuckerbomben eingeschlagen, doch spielten gelbe Plombenzieher später eine Rolle.
K lebrige gelbe Bonbons und Günter Grass – das ist Friedenau für mich. Der Name dieses Berliner Stadtteils bezieht sich auf den Friedensvertrag von 1871 nach dem deutschen Sieg über Frankreich. Meine Großeltern wohnten 65 Jahre später am Friedrich-Wilhelm-Platz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zog mein tschechischer Urgroßvater František Nestl in die Kammer, in der meine Mutter gewohnt hatte, weil er zu alt war, um alleine zu leben. Er war Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin gekommen, er hatte eine Stelle als Chefschneider bei Gerson angenommen. Das Modehaus am Werderschen Markt war Hoflieferant, der Krönungsmantel, den Wilhelm I. 1861 in Königsberg trug, stammte von Gerson. 1936 arisierten die Nazis den „Feentempel der Mode“, wie er genannt wurde, und bauten ihn zum Reichskriminalpolizeiamt um. Im Krieg wurde das Gebäude zerstört.
In der Wohnung am Friedrich-Wilhelm-Platz war bei einem Bombenangriff 1944 der komplette Rahmen mit zwei Fenstern und der Balkontür ins Berliner Zimmer gestürzt. Mein Großvater, der handwerklich geschickt war, brachte den Rahmen mit Holzpflöcken wieder in die ursprüngliche Position, und so hielt er bis heute.
František trug auch in der Wohnung immer eine Baskenmütze. Im Schrank in seiner Kammer bewahrte er ein Glas mit gelben Eukalyptusbonbons auf, die aneinanderklebten. Ich durfte mir stets ein oder zwei der länglichen Zuckerbomben herausbrechen. Er starb 1959 im Alter von 94 Jahren.
Eine Nachbarin schenkte meinem Opa damals oft Briefmarken für mich, und ich musste mich bei ihr bedanken. Erst viel später erfuhr ich, dass sie meine Großeltern während des Kriegs um Lebensmittelkarten erpresst hatte, weil mein Opa im Luftschutzkeller gesagt hatte: „Wir verlieren den Krieg ja doch.“
Meine Großeltern gingen gern auf dem Rüdesheimer Platz spazieren. Seit den Achtzigerjahren bieten Winzer aus dem Rheingau im Sommer dort ihre Weine an, was passend ist, waren die Vorfahren meines Opas doch ebenfalls Winzer und Gastwirte aus dem Rheingau. Eines Tages, es muss 1977 gewesen sein, lag auf einer Parkbank die Papiertüte einer Buchhandlung, darin die Erstausgabe des „Butt“ von Günter Grass.
Meine Oma brachte einen Zettel an der Parkbank an, aber der Eigentümer des Buches meldete sich nie, sodass ich es nach dem Tod meiner Großeltern 1990 erbte. Ein Jahr später kam Grass nach Dublin, weil sein Buch „Die Schweinskopfsülze“ in irischer Übersetzung veröffentlicht wurde: „An Cloigeann Muice Glóthaithe“. Als wir danach mit ihm und unserem Freund Gabriel Rosenstock, der das Buch übersetzt hatte, essen waren, erzählte ich Grass, der damals in Friedenau wohnte, die Geschichte und ließ mir das Buch signieren.
Es steht nun in meinem Bücherschrank in Irland, daneben ein Glas mit klebrigen Bonbons.
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