Die Wahrheit: Gut betucht unter der langen Mähne
Mit dem schwarz-weißen Spüllappen um den stets erkälteten Hals. Die Geschichte einer Jugend mit Palästinensertuch in Ostwestfalen.
Dies ist die Geschichte eines Kleidungsstücks. Meines. Genauer gesagt: meiner Kleidungsstücke, denn ich besaß insgesamt vier davon. Ich war gut betucht in meiner Jugend, im Wortsinn. Was auch nicht ganz stimmt, denn drei besitze ich sogar heute noch, irgendwo hinten im Schrank. Und ob das Tuch wirklich gut war, weiß ich heute nicht mehr so genau. Die Rede ist von Palästinensertüchern, damals auch geheißen „Palituch“ oder „Arafat-Lappen“ oder „Spül-Lumpen“.
Sie sind immer mitumgezogen, wurden aber von Wohnung zu Wohnung tiefer vergraben hinter der Bettwäsche und den etwas verblichenen B-Handtüchern. Das letzte Mal getragen habe ich eins vor rund zehn Jahren – einige Nächte im Bett während einer Mandelentzündung. Damit wollte ich definitiv nichts sagen, was bei einer Mandelentzündung aber ohnehin schwierig ist.
Seit 1990 begleiten mich diese Tücher. Ich war jung, irgendwie links und in der Oberstufe eines Landgymnasiums mit eher linker Schülerschaft nahe der Uni-Stadt Bielefeld. Entsprechend viele Palästinensertücher besaß ich. Sie gehörten irgendwie dazu. Ehrlich gesagt, habe ich nie darüber nachgedacht, was man damit zeigte, außer: „Ich bin irgendwie alternativ.“
Mein erstes kaufte ich auf einem Flohmarkt in Amsterdam, wo ich mir auch einen peruanischen Kapuzenponcho zulegte. Beides zusammen sah ziemlich gut aus, fand ich damals, kulturelle Aneignung war ja noch nicht erfunden. An Dreadlocks traute ich mich nicht ran, und ein Ché-Guevara-Poster hängte ich mir auch nicht ins Zimmer, der war mir irgendwie suspekt.
Das PLO-Tuch gehörte zum typischen Outfit wie die pechschwarzen Jeans am besten von der japanischen Marke Edwin, Doc Marten’s und Anne Clark im Walkman. Wenn nicht Anne Clark, dann Joy Division. Wenn weder noch, kam man wie ich auch mit Faith No More durch.
Und wir trugen sie alle, selbst Philipp, dessen Papa CDU-Ratsmitglied war, trug unter der langen Metalmähne ein Palituch. Auch die Bauernjungs. Auch die Mädchen. Selbst die Rollenspieler. Das Palituch gehörte zu einer gymnasialen Oberstufe dazu wie heute Billie Eilishs mintgrün gefärbtes Haupthaar. Von der Palästinensertuch-Dichte her hätte unser ostwestfälisches Provinzgymnasium in Halle auch im Westjordanland liegen können. Halle/Ramallah, lautlich passte das schon.
Flucht vor kleinkarierter Enge
So waren die frühen Neunziger: Wir flohen vor der Enge unserer Elternhäuser ins Kleinkarierte des Palästinensertuchs. Auch wenn Muttis Geschirrhandtücher fast dasselbe Muster hatten. Es war eine Modeerscheinung. Mit Jassir Arafat als Supermodel, der PLO-Chef als Naomi Campbell des Nahen Ostens.
Doch es war auch eine andere Zeit, versuche ich, mir einzureden. Da war doch der Friedensprozess! Und Israel war zu jener Zeit ja noch Besatzer sämtlicher palästinensischer Gebiete. Und wie sich da beim Osloer Friedensabkommen die einstigen Erzfeinde Arafat und Rabin die Hand gaben, das war schon ganz schön cool. Da konnte man ein Palituch gut mit inhaltlichem Stolz schwenken.
Aber das Abkommen war erst 1993. In den Jahren zuvor, als ich schon mit den Tüchern zur Schule ging, verbreitete die PLO auch noch Terror. Und im ersten Golfkrieg war Arafat glühender Verehrer Saddam Husseins. Mich gruselt etwas, wenn ich das heute lese, und muss daher rückblickend wohl sagen: Ich war jung und hatte keine Ahnung. Mir reichte die kulturelle Aneignung: Das Palituch war als modisches Accessoire linker Jugendlicher etabliert, also trug ich es. Anders als im Westjordanland, gab es sie hier auch in allen Farben des Regenbogens!
Damit nicht genug: Weil es eben frühe Neunziger war, batikte ich sie zum Teil noch: eins, nach meinem Coming-out, in Lila. Im Gaza der letzten Dekaden wäre ich dafür wohl standrechtlich erschossen worden. Auch wenn es heutzutage queere, linke Gruppen gibt, die finden, dass es originäres queeres Anliegen sein muss, den Kampf der Hamas zu unterstützen. Man möchte ihnen empfehlen, den nächsten Gaza-Pride zu organisieren, vielleicht hält die Hamas ja ein Grußwort.
Links ist ganz schön unübersichtlich geworden, denke ich heute oft, plötzlich gibt es radikale Feministinnen, die Femizide an jüdischen Mädchen als Dekolonisierungsmaßnahme irgendwie okay zu finden scheinen. Wo gehobelt wird, wird halt auch gehobelt.
Manchmal frage ich mich, ob ich mich da noch links verorten will. Gleichwohl habe ich das Gefühl, dass ich mit meinen Werten noch in etwa dort stehe, wo ich immer stand. Nur die Linken sind einfach weggegangen, ein paar Schritte ins Irrationale. Femizide gutheißen als Befreiungskampf? Da zeigt der moralische Kompass doch nur zum eigenen Herz aus Stahl.
Vielleicht ist der eigene moralische Kompass ohnehin wichtiger, als irgendwo dazugehören zu wollen. Eine Lektion, die ich damals noch nicht gelernt hatte. Andere machten modische Chiffren vor, wir machten nach.
Schutz vor kühlen Lüftchen
Doch eins muss man wirklich sagen: Die Palästinensertücher hatten einen unschlagbaren Vorteil. Sie waren warm und damals gab es ja noch echte Winter! Man konnte sie super beim Fahrradfahren umbinden, die Ecken schön in den Kragen stopfen und kein kühles Lüftchen fuhr mehr den Hals runter. So bequem schaffte das kein Schal. Meine Palitücher haben sicher mancher Erkältung vorgebeugt. Keine Ahnung, ob die Erfinder diese Verwendung intendiert hatten, für mich galt: lieber Palästina als Dobendan!
So wich mit den Jahren mein Umgang mit den Tüchern praktischen Erwägungen. Ich trug sie nicht mehr ständig, sondern nur noch Herbst und Winter beim Radfahren und stopfte sie nach dem Ankommen in den Rucksack. Und ich nahm auch nur noch das dunkelgrüne: Das fiel am wenigsten auf und sah mehr öko aus als nahostig.
Nach dem 7. Oktober 2023 und den ersten „From-the-river-to-the-sea“-Rufen linker Jugendlicher mit Palitüchern um den Hals, war ich kurz versucht, meine alten Tücher aus dem Schrank zu holen und öffentlich in die Tonne zu kloppen und die Aktion auf Instagram zu posten. Insgeheim befürchtete ich jedoch eine Intifada vor unseren Mülltonnen.
So werden die Tücher wohl weiter ein Schattendasein in der zweiten Reihe meines Kleiderschranks fristen, bis mich die nächste Mandelentzündung niederstreckt. Ansonsten werden sie früher oder später Opfer von Motten werden. Es sei denn, es gelingt dereinst ein wirklicher Friedensprozess im Nahen Osten. Ohne Terror und radikale Siedler, mit Demokratien in zwei souveränen Staaten, mit einem erneuten Nobelpreis und der ersten Gaza-Pride-Parade. Dann könnte ich sie mir vielleicht mal wieder umbinden. Ich fürchte aber, die Motten werden schneller sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!