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Die WahrheitMein erstes Pony

Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: In den dunklen Abgründen eines düsteren Familienfestes leuchtet mit zwei glühenden Augen ein Licht der Hoffnung.

Illustration: Anna Zimmermann

Wie immer war Weihnachten nicht schön. Mutter war ja gestorben. Die kurzen düsteren Tage, hingeworfene Brosamen aus der finstersten Hölle, verrichteten ihr Tun freudlos wie unglückliche Straßenprostituierte. Im Grunde war das ganze Jahr schon scheiße gewesen.

Auf dem Weg von der Busendhaltestelle zu der zwischen Industrie-brachen und Armenfriedhöfen gelegenen Bruchbude, in der mein alter Vater „lebte“, schnappten tollwütige Riesenratten nach meinen Hosenbeinen, ehe sie heiser hustend im kalten Nebel verschwanden. Fröstelnd schlug ich den Mantelkragen hoch und versuchte, mich zu erwärmen, indem ich an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit dachte.

Beharrlich hatte ich mir jedes Mal ein Pony gewünscht, obwohl wir wenig Geld hatten. So gab es bei uns nur entweder zu essen oder zu trinken – das konnten wir uns am Morgen jeweils aussuchen und auf einer Liste eintragen. Bloß zu Weihnachten gab es ausnahmsweise beides.

Und es gab sogar Geschenke. Ich bekam meist eine volle Mülltüte überreicht, die ich aber gleich nach draußen in die Tonne bringen musste. Die Gabe war eher symbolischer Natur. Ebenso bei meinen Geschwistern, die kunstvoll gerollte Popel, Gutscheine für eine Tracht Prügel oder eine Unze Hausstaub kriegten. Stumm weinte ich in mich hinein: Schon wieder hatte ich kein Pony bekommen.

Weihnachten 1953 erlebte ich dann jedoch die schönste Überraschung meines Lebens. Unter dem Weihnachtsbaum stand, eingewickelt in silbrigen Stacheldraht, doch tatsächlich ein Pony. Es hatte sechs Beine, kohlrabenschwarzes Fell, und in dem bösen Gesicht funkelten wie glühende Kohlen zwei tückische kleine Augen. Es schnaubte verächtlich und scharrte mordlustig mit den Hufen: Golden Spoon war ein klassisches Systemsprengerpony.

Nicht einmal die große Pferdemetzgerei Strubel am Ortsrand, an deren Pforte es der verzweifelte Vorbesitzer bei Nacht und Nebel angebunden hatte, war mit ihm fertig geworden. Im Gegenteil hatte es sich im Schlachtraum losgerissen und sich derart rabiat gewehrt, dass die Mitarbeiter panisch das Weite suchten. Zuvor hatte das Pony einem von ihnen das Bolzenschussgerät entwunden und das gesamte Magazin laut wiehernd auf die Belegschaft abgefeuert. Denn was keiner wusste: Golden Spoon war ein direkter Nachkomme des grasfressenden Sleipnir, des kilometerfressenden Black Beauty, und des Gyros, eines der fleischfressenden Rosse des Diomedes. Die drei Hengste bildeten eine schwule Patchwork-Familie, in deren Schutz das kleine Pony sämtliche Freiheiten genoss. Er tollte sommers froh über die grünen Wiesen, schnupperte an den Blumen und tötete alles, was sich ihm in den Weg stellte. Seine Väter lobten ihn dafür.

Gerüchteküche nach Blutbad

Vielleicht hätte man dem Fohlen doch mehr Grenzen setzen sollen, aber hinterher ist man immer schlauer. Pferdemetzgermeister Strubel hatte das Blutbad jedenfalls als Einziger überlebt und war nun gezwungen, sich beruflich neu zu orientieren. Die Gerüchteküche brodelte. So munkelte man im Dorf von einem Jobangebot als Wurzelschäler in der Küche eines veganen Schweigeklosters auf den Nordmolukken.

Doch ehe er auf Nimmerwiedersehen aus der Gegend verschwand, hatte Strubel noch die kluge und charmante Idee, das Pony einem Kind zu Weihnachten zu schenken, dessen Eltern sich keines leisten konnten oder wollten: Hier zeigte der Abdecker noch ein letztes Mal sein wahrhaft großes Herz.Und an dieser Stelle kamen meine Eltern ins Spiel. Denn da mein Vater als Gehilfe des örtlichen Tatortreinigers arbeitete, war er einer der Ersten, die von dem hübschen kleinen Rappen erfuhren, der im Hochsicherheitstrakt des Dorfzuchthauses auf ein armes Kind wartete, um dessen Weihnachtsgeschenk zu werden.

Des einen Leid, des anderen Freud. Am Heiligen Abend fiel ich meinen Eltern weinend um den Hals, eine Gemütsregung, die in unserem Hause überhaupt nicht vorgesehen war. Zu meiner Geburt sowie zu der meiner Geschwister erhielt das Neugeborene einen kurzen Händedruck, der bis zum Lebensende reichen musste. Jede weitere Berührung hätte praktisch schon als außerehelicher Sex gegolten. Dennoch wirkte Mutter fast gerührt, als sie ihren Elftgeborenen so außer sich vor Glück erlebte. Das merkte ich daran, dass ihre Maulschelle beinah zärtlich ausfiel.

Im Schein der Kerzen aus Wespenwachs sangen wir zusammen: „Großer Gott, wir loben dich.“ Anschließend wurde die Brennnesselsuppe aufgetragen, dazu gab es für jeden ein schönes Glas Wasser aus der Regentonne. Und endlich durften wir mit unseren Geschenken spielen. Die Mülltüte hatte diesmal mein Bruder Klünter bekommen. Das Pony ritt auf mir um den Weihnachtsbaum und gab mir mit den scharfen Hufen seiner drei Hinterbeine ordentlich die Sporen. „Hüh“, wieherte es, „hüh!“ Wenn ich mich dagegen gewehrt hätte, hätte es mich garantiert sofort getötet. Trotzdem liebte ich es auf Anhieb mehr als alles andere in der Welt: mein erstes eigenes Pony!

Humpeln nach Zehenfraß

Es sollte mit mir im Kinderzimmer wohnen, denn für einen Stall hatten wir kein Geld. In meinem Bettchen bereitete ich meinem bösen Liebling ein weiches Lager. Er fraß erst das Kopfkissen aus Stroh und dann drei meiner Zehen, weshalb ich bis heute humple wie Reinhold Messner: Daran erinnerte ich mich nun, während ich die Gartentür zum Anwesen meines nahezu hundertjährigen Vaters aufdrückte.

Ich besuchte ihn stets an runden Jahrestagen, und heuer war es wieder mal so weit: Vor exakt siebzig Jahren hatte Mutter am Weihnachtsmorgen den Fehler begangen, ohne anzuklopfen, die Tür des Kinderzimmers zu öffnen, hinter der, gebettet auf meinen mageren Knabenkörper, mein neues Pony schlief. Immerhin dürfte sie nicht lang gelitten haben – vom Zustand ihrer Leiche zu schließen, muss der Tod in Sekundenschnelle eingetreten sein. Sie war nur 26 Jahre alt geworden.

Als Vater gebackene Fichtenzapfen auf drei Teller verteilte, trabte Golden Spoon in die Küche. Gleich mir war er in der Zwischenzeit völlig ergraut. Sein einst so lebhaftes, wiewohl nicht unproblematisches Temperament war tiefer Güte und Weisheit gewichen – die ayurvedische Lobotomie nach Dr. Precht hatte erfolgreich sein Mütchen gekühlt. Gemeinsam warteten wir auf den Weihnachtsmann. Hoffentlich würde er klopfen, denn wenn jemand einfach so ins Zimmer platzte, konnte das Pony weiterhin komplett ausrasten.

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1 Kommentar

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  • Vielen Dank BHerr Hannemann, Ihre düsteren "Erinnerungen" haben für mich ein paar Minuten das Dunkle besiegt.