Die Wahrheit: Ommas Ding
Tagebuch einer Heimkehrerin: Zurück zu den wahren Kulturstätten im Köln der Kindheit – wie einem scheppernden Schacht in die Vergangenheit.
lterwerden ist ja bekanntlich nichts für Feiglinge, weshalb manche von uns es mit allen möglich Tricks zu vermeiden suchen. Meiner ist der Enkeltrick. Aber der Reihe nach.
Vor ein paar Wochen wollte es der Zufall, dass ich nach ewiger Zeit zwei Tage allein in meiner Heimatstadt Köln verbrachte. Zurückgebeamt in die Kindheit, suchte ich nach der Ankunft am Hauptbahnhof reflexhaft nach dem „Riefkoche“-Büdchen auf dem Vorplatz, aber nicht mal das kleinste bisschen Reibekuchen-Röstaroma wehte durch die herbstlich feuchte Luft.
Enttäuscht und hungrig stand ich wie eine verlorengegangene Sechsjährige auf der Domplatte, es fehlte nur noch eine Durchsage: „Dat kleine Pia hat sisch verlaufen und möschte bitte am Domeinjang abjeholt werden.“ Na gut, also ab ins Museum.
Während mein Erwachsenenkörper sich vorbei an Tauben, Trinkern und Touristen aufmachte, durchwanderte mein kindlicher Geist verträumt Stationen der Vergangenheit wie Karneval mit Kamelle, bis er schließlich am Müllschlucker im Etagenflur meiner Großmutter hängenblieb. Nix Museum, das war die Kulturstätte, die ich aufsuchen musste!
Das Ding hat mich in meinen Kindertagen fasziniert. Meine Omma trug den Müll in einer Tüte aus der Wohnung, öffnete im Treppenflur gegenüber vom Fahrstuhl eine Klappe, hinter der eine Art Rohrpost bis in den Keller führte, und ließ die Mülltüte reinfallen. Irgendwo ganz unten vereinigte sich dann der Abfall aller Etagen.
Bevor ich meine Großmutter besuchte, hortete ich in meiner Tasche tagelang Zeug, um es mit großer Geste bei ihr wegzuschmeißen. Sie versuchte, das Schlimmste zu verhindern, wenn ich mich nach der Entsorgung meiner mitgebrachten Sammlung aus leeren Zahnpastatuben, kaputtem Kleinspielzeug und zerfledderten Comicheften über ihren Wohnungsinhalt hermachte. Mehrmals rettete sie schimpfend und in letzter Sekunde noch den kostbaren Sportteil ihrer Tageszeitung; ich entsorgte dafür heimlich Cremedosen und fast leere Nagellackfläschchen, das schepperte schön. Mit Begeisterung feuerte ich alles in die Unterwelt, was nicht an die Wand genagelt war.
Nun also endete meine Wallfahrt Jahrzehnte später im Nieselregen vor einem Nachkriegsmiethaus; ich drückte wahllos eine Klingel und sagte mein Enkeltricksprüchlein in die Sprechanlage: „Schönen guten Tag, meine Omma hat mal hier gewohnt, würden Sie mich reinlassen? Ich möchte mir noch mal den Müllschlucker angucken.“
Man sollte meinen, nach so einem Satz gesundem Misstrauen zu begegnen, aber auf meine Heimat war Verlass. „Ach, dat is doch schön. Ja, da kommse ma rein“, freute sich eine Dame, der Stimme nach in einem ähnlichen Enkelalter wie ich.
Kann schon sein, dass wir Kölner alle ein bisschen bekloppt sind, aber dafür sind wir freundlich. Mein Müllschlucker war übrigens stillgelegt, doch der Fahrstuhl mit dem tollen Bullaugenfenster fuhr noch immer.
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