Die Wahrheit: Verhör durch den verlängerten Arm
In einem abgelegenen Haus wird ein Mann festgehalten und mit „Beweisen“ konfrontiert, die eine „Naturstelle“ gegen ihn zusammengetragen hat.
B eim optischen Durchdringen der unvertrauten Landschaft entdeckte ich in etwa fünfzig Metern Distanz ein kleines Haus. Daneben saßen zwei ältere Männer auf dem Erdboden.
„Wir warten auf Hornscheit“, sagte einer von ihnen. Auf meine Frage, wer das sei, antwortete der andere: „Der verlängerte Arm der Naturstelle. Er wird gleich herauskommen und tanzen.“
Beide verlangten, ich solle mich ebenfalls auf den Boden setzen. Widerstrebend tat ich es. Ein großer, dünner alter Mann – offenbar der genannte Hornscheit – kam aus dem Haus. Seine Kleidung absonderlich zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Eigentlich war es keine Kleidung im engeren Sinne, denn der Leib dieses Menschen war bloß mit vielen kleinen Fellstücken bedeckt, die wie platte tote Ratten aussahen und an Schnüren hingen. Die Schnüre waren an mehreren Körperstellen befestigt, am Hals, den Oberarmen und -schenkeln sowie an einem ledernen Hosengürtel.
Näher kommend, machte Hornscheit ungelenke Sprünge und Verrenkungen. Er hielt mir die Spitze eines Stocks, an der etwas ekelhaft Aussehendes steckte, vors Gesicht und befahl den Männern, mich ins Haus zu bringen. In dem kleinen Haus begab sich „der verlängerte Arm der Naturstelle“ sofort in eins der Zimmer. Seine beiden Helfer brachten mich in ein anderes und verschwanden.
Es dauerte nicht lange, bis Hornscheit zu mir kam. Er hatte sein lächerliches Kostüm gegen gewöhnliche Kleidung getauscht: weißes Hemd, dunkle Hose und Schuhe. Auch trug er jetzt eine Brille. Als ein alter Mann mit Halbglatze und grämlich verzogenem Mund blickte er mich feindselig an.
„Ich werde Ihnen alles nachweisen“, knurrte er, „jedes einzelne Wort, das Sie geschrieben haben. Die ganze Schweinerei.“ Er rief seine Handlanger und befahl ihnen, „die Beweise“ zu holen. Wortlos gehorchend, liefen sie wieder davon. „Gleich kommt alles heraus“, kündigte Hornscheit an, „machen Sie sich auf die endgültige Abrechnung gefasst!“
Erstaunlich schnell kehrten die Gehilfen zurück. Jeder von ihnen trug ein trommelförmiges, mülltonnengroßes Objekt, bestehend aus Holzlatten, Drähten, Schnüren und Zeitungsblättern, die auf eine nur im Traum mögliche Weise integriert waren. Es schien sich um so etwas wie Apparate zu handeln. Offenbar mussten sie durch das Drehen von Kurbeln in Rotation versetzt werden, doch alle Versuche, sie zum Funktionieren zu bringen, misslangen.
Hornscheit fluchte. Schließlich ließ er die unnützen Gebilde wieder fortschaffen. Er drohte mir: „Ich besitze den elektronischen Abdruck einiger Ihrer Träume. Damit kann ich ebenso gut alles beweisen.“ Doch diesen Beweis blieb er schuldig. Stattdessen faselte er unzusammenhängendes Zeug, bezichtigte mich auch, ein „untergetauchter Arzt“ zu sein. Sein wildes Fantasieren wurde immer wirrer, bis seine Sprache kollabierte. Dann wurde er – von innen her – vor meinen Augen ausgewechselt.
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