Die Wahrheit: Stabil im roten Bereich
Die allerneueste Krankheit der Deutschen nach ärztlichem Befund: Erregungserschöpfung. Ein kurzer persönlicher Einwurf zu Aufregerthemen.
Was darf’s denn sein? Worüber möchten wir uns denn heute mal so richtig schön aufregen? Oder mal andersherum: Können Sie überhaupt noch?
Was mich betrifft, mir fällt es schwer. Nicht dass ich mich komplett von allen daseinsverdüsternden Plattformen abgemeldet habe. Ich nehme schon noch gelegentlich fahrlässig am Nachrichtengeschehen teil. So wie ich das sehe, mangelt es da auch eigentlich nicht an Aufregerthemen.
Das sollte man ja auch mal an dieser Stelle anerkennend erwähnen: Das mit Empörungsverursachung beschäftigte Personal in Politik und Medien gibt sich nach wie vor wirklich bewundernswert viel Mühe, um den Bevölkerungsblutdruck stabil im roten Bereich zu halten. Hut ab.
Migrationschaos, Grenzkontrollen ja/nein/weiß nicht, Wohnungsbaurezession, Inflation, Ampel-Gehampel, Ukrainekrieg sowieso. Und als Wake-up-Call zwischendurch immer mal kurz einen frischen Deutschland-Trend mit dem nächsten AfD-Allzeithoch eingeschoben. Gründe genug, um am Rad zu drehen. Ich aber muss immer häufiger passen. Ich schaffe es einfach nicht mehr. Ich war deswegen schon beim Kardiologen.
„Herr Doktor, es ist so viel Irrsinn und Getöse in der Welt, aber ich schlafe stabil acht Stunden durch und habe anschließend ’nen Ruhepuls von 52. Was läuft falsch?“
Der Fachmann blieb cool: „Ach, völlig normal, Eckenga. Kein Grund zur Besorgnis. Alles im grünen Bereich. Haben jetzt viele: Kommt vom viel zu hohen Wirklichkeitsverbrauch. Das fing schon im Sommer an. Nachdem wir mit der Heizungsgesetzempörung durch waren. Da reichten ja noch ein, zwei Reizwörter, damit einem die Patienten mit dem nackten Hintern ins Gesicht sprangen. Irgendwas Zusammenhangloses mit ‚Habeck‘ oder ‚Wärmepumpe‘ in die Luft gepustet und schon war fünf vor Armageddon. Vergessen – vorbei. Hat sich erledigt beziehungsweise: Liegt auf Wiedervorlage.“
Ich staunte nicht schlecht: „Geht denn gar nix mehr, Herr Doktor? Nicht mal Wetter?“
„Na ja“, meinte mein Arzt, „Wetter geht ja eigentlich immer, ist aber derzeit auch eher mau, weil, es ist eigentlich gerade noch zu schön, um einen dicken Hals zu kriegen. Außerdem hatten wir das ja alles mehr als reichlich. Geht mir selbst auch nicht anders als Ihnen. Hitzerekorde, Starkregenereignisrekorde, Polkappenschmelzrekorde.
Mal ehrlich, da fang ich doch schon an zu gähnen, bevor der gute Sven Plöger als Wetterfrosch eingeatmet hat. Also, bleiben sie mal ganz gelassen. Das ist die neue Volkskrankheit: Erregungserschöpfung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt