Die Wahrheit: Die Arbeit unterm Deckmantel
Aus Geheimhaltungsgründen darf das Firmengebäude nicht verlassen werden. Als plötzlich ein mysteriöser neuer Chef auftritt. Eine Groteske.
O ft vergaß ich, morgens zur Arbeit zu gehen, obwohl ich am Abend zuvor noch daran gedacht hatte. Nach dem mühsamen Erwachen konnte ich mitunter nicht einmal meinen linken Fuß oder dergleichen finden, geschweige denn die Firma, die mich beschäftigte. Erschien ich dort aber, scheiterte ich an den mir übertragenen Aufgaben und wurde schließlich mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.
Man ließ mich wissen, die Unternehmensleitung berate über meine Versetzung in einen anderen Bereich. Bis zur Entscheidung über meine weitere Verwendung durfte ich aus Geheimhaltungsgründen das Firmengebäude, in dem auch meine Wohnung war, nicht verlassen. Was ich zum Leben brauchte, konnte ich in einem hauseigenen Laden kaufen. Meinen Arbeitsplatz musste ich räumen, hatte aber weiterhin jeden Morgen pünktlich in der Firma zu erscheinen. Was ich bis zum Feierabend tat, blieb mir persönlich überlassen, solange ich nicht im Weg war oder einen unbeschäftigten Eindruck erweckte.
Infolgedessen hielt ich mich oft im hinteren, wenig genutzten Treppenhaus auf, verbrachte auch viel Zeit wartend auf der Toilette. Nachmittags konnte ich eine Weile im Büro der Chefsekretärin unterkommen. Mit der sympathischen, eleganten Frau, die einige Jahre älter war als ich, hatte ich mich während der letzten Monate ein wenig „angefreundet“, so dass sie mir jetzt Asyl bot. Sie war die einzige Konstante innerhalb der ständig wechselnden Belegschaft. Ausgerechnet ihren Namen konnte ich mir jedoch nicht merken.
In angenehmer, ruhiger Atmosphäre unterhielten wir uns ungestört über alles Mögliche. Dabei erfuhr ich, es sei im Gespräch, mich künftig bei einer Tarnversion des im Geheimen operierenden Unternehmens unterzubringen, dessen Angestellte wir waren. Dass es unter dem Deckmantel einer Haarkosmetikfirma agierte, wusste ich bereits, doch nun vertraute mir die Chefsekretärin an, auch die Vorspiegelung eines Straßenbauamts gehöre zur Geschäftspraxis. „Vielleicht werden Sie sogar alternierend in beiden Varianten eingesetzt“, meinte sie.
Ihre Andeutungen beunruhigten mich, doch mehr konnte oder wollte sie nicht dazu sagen. Nur wenige Tage später geschah es dann, dass ich, als ich sie wieder besuchen wollte, in ihrem Büro eine völlig fremde, unsympathische Frau antraf. Überrascht äußerte ich, zu wem ich eigentlich wollte. Darauf erwiderte die Fremde: „Das bin ich. Was wünschen Sie?“ Nun war auch die Chefsekretärin ausgewechselt worden!
Diese Erkenntnis ließ mich die riesigen Leerräume zwischen den Atomen spüren. Der Boden unter meinen Füßen schien nachzugeben. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Mit letzter Kraft verließ ich das Büro und schleppte mich zu meiner Wohnung. Dem Dienst blieb ich danach fern. Im Bett liegend, wartete ich auf meine Versetzung. Vielleicht war ich auch schon gegen eine fremde Person ausgetauscht worden?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles