piwik no script img

Die WahrheitEin herrenloser Damenradtraum

Die beste KI kann keine Psychoanalyse ersetzen, das wird auch dem letzten Schlafschaf spätestens im Albtraum klar.

G estern träumte ich, ich sei in meiner Aufwachsstadt Kassel mit einem Damenrad in eine vollbesetzte Straßenbahn eingestiegen. Das Fahrrad musste ich aus Platzgründen hochkant stellen und mit Körperdruck vor dem Umfallen sichern. Während der Fahrt versuchte ein Jugendlicher, mir heimlich meine Schnürsenkel zusammenzubinden.

Ich sagte: „Ey, hast du se noch alle?“ Er lachte. Ich nahm ihm seine Sonnenbrille aus dem Gesicht und warf sie in hohem Bogen durch den Waggon. Ein anderer junger Mann streckte seine Hand aus, fing die Brille auf, steckte sie ein und stieg aus.

Der Schnürsenkelverknoter baute sich vor mir auf. Ich fragte: „Willste mir jetzt eine in die Fresse hauen?“ Er griff hinter mich, zog blitzschnell mein Fahrrad zwischen mir und der Fahrzeugwand hervor, als sei es ein Blatt Papier, schlüpfte durch die sich schließende Tür und radelte davon. Während des ganzen Vorgangs lief im Hintergrund „Here comes the rain again“ von den Eurythmics. Ende des Traumes.

Hä? Was bitte soll das? Ein vermutlich von einer KI geschriebenes „Lexikon der Traumdeutung“ im Internet behauptet: „Träume, in denen Fahrräder eine Rolle spielen, werden oft als ‚glückliche Träume‘ empfunden.“ Aha. „Der Betroffene fühlt sich munter und frohsinnig.“ Na ja, geht so. Weiter: „Wird ein Fahrrad im Traum gestohlen, hat man vermutlich im Leben eine Chance verpasst, die das (berufliche) Weiterkommen ermöglicht hätte. Der Träumende sollte über einen Verlust nachdenken.“

Entgegen dem Freud-Klischee ist es nicht so, dass real existierende Psychoanalytikerinnen, ihre Kundschaft mit solcher interpretatorischen Horoskop-Poesie belästigen. Ich weiß das, weil ich mal eine Psychoanalyse gemacht habe. Nicht, weil ich – wie sich manche Leute dann rausreden – meine Persönlichkeit weiterentwickeln wollte, sondern weil ich einen veritablen mittleren Dachschaden habe. Anderes Thema.

Auf alle Fälle hätte meine Psychoanalytikerin niemals wie das künstliche Internet-Traumdeutungslexikon geraunt: „Wenn in einem Traum jemand Sonnenbrille trägt, ist dies ein Warnsignal. Sie sollten dieser Person gegenüber vorsichtig sein.“ Meine Psychoanalytikerin hätte mich stattdessen gefragt: „Und was glauben Sie, was Ihr Traum bedeutet?“

Als sie das zum ersten Mal tat, dachte ich: „Pardon? Muss man hier eigentlich alles selbst machen?“ Bis mir dann klar wurde, dass es bei der Analyse genau darum geht: irgendwas zum Anlass nehmen, zum Beispiel einen bekloppten Traum – und einfach losquasseln. Weil man beim Rumassoziieren erfahrungsgemäß immer wieder auf die gleichen Themen, die persönlichen Knackpunkte, kommt – und beim dreiundsiebzigsten Mal Durchdelirieren eines Themas dann vielleicht sogar mal was kapiert.

Ein bisschen ist das wie beim Kolumnieren. In diesem Sinne: Danke fürs Zuhören. Ein bisschen besser geht’s mir schon …

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Hartmut El Kurdi
Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)