Die Wahrheit: Mein Leben als Ärzte-Platte
Macht und Sex, Musik und Fußball – alle großen Themen unserer Zeit versammelt in einer wortmächtigen Betrachtung. Was wollen Wahrheit-Leser mehr?
W ollt ihr die Wahrheit hören? „Nein!“, antwortet ein großer Chor auf der einzigen Ärzte-Platte, die ich habe. Sie heißt: „Dies ist nicht die ganze Wahrheit“, stammt aus den achtziger Jahren und beginnt mit dieser Frage.
Es folgen Lügen, Bekenntnisse und Geschichten mit jeder Menge Gags. Höhepunkte sind das eine Lied über die Elke, die als adipös gelesen wird und als Sexualobjekt eher Ambivalenzen auslöst, und das andere über die Latzhosenträgerin, die angeschmachtet wird, aber nur „Schwanz ab, Schwanz ab, runter mit dem Männlichkeitswahn“ singt. Wie man liest, war diese Ärzte-Platte ihrer Zeit voraus. Oder wir hängen in einer Zeitschleife fest, kann auch sein.
Aber keine Angst, hier folgt jetzt kein Sermon über das aktuelle Verhältnis der Geschlechter, das im Wesentlichen von Anklagen oder, je nach Perspektive, von Übergriffen geprägt ist. Erst am Sonntag hat sich ja der spanische Fußballpräsident von seinem Verlangen übermannen lassen, die spanische Starspielerin Hermoso schön auf den Mund zu küssen. „Sexuelle Aggression“, war als Urteil dazu zu lesen.
Am Ende hatte die Latzhosenträgerin selbstverständlich recht, und es gilt, sich mit ganz viel Glück vielleicht küssen zu lassen und bloß nicht mehr, schon gar nicht ungefragt, selbst zu küssen. Liedzeilen wie „You must remember this, a kiss is just a kiss“ oder „Don’t talk, just kiss“ müssen neu gedacht werden. „You must remember this, a kiss is not just a kiss“ und „Don’t kiss, just talk“, das sind die neuen Wahrheiten.
Aber gut, es geht dabei eher um Macht als um Romantik. Macht, so der Subtext, darf man haben, aber nicht ausüben, schon gar nicht sexuell. Wozu dann überhaupt noch Macht?, möchte man da fragen. So ohne Ausübung ist Macht doch doof. Und überflüssig letztlich. Und ist Macht nicht automatisch Gewalt? Bedeutet Macht nicht, dass man über andere bestimmt, die dann machen müssen, was sie im Grunde gar nicht wollen?
Aber Macht macht scheiße, so oder so. Lassen wir das doch mit der Macht. Geht das irgendwie? Hm, könnte schwierig werden, weil Macht fast überall ist, wenden da schlaue Foucaultianer ein, sogar auf dem Mond. Tja, nun. Aber etwas weniger Macht, und dann auch so, dass man es weniger merkt, das wäre schon schön. Oder? Schießen wir doch die Macht auf den Mond und nicht auf den Mund, in einer Mond- und nicht Mundmission!
Und bleiben ansonsten, wie wir sind, nur ein bisschen besser. „Bleib wie dein Bier“, lautet in dem Land, in dem ich mittlerweile hauptsächlich wohne, eine Werbung. Das leuchtet mir so als Spruch sofort ein. Also bleibe ich frisch, prickelnd, berauschend, gutschmeckend – und keinesfalls abgestanden, lau, zu herb und wirkungslos. Man will ja geküsst werden.
Mein Lieblingslied auf der Ärzte-Platte heißt „Außerirdische“. Mit der Zeile „Mein Sexualleben ist total ruiniert, denn Außerirdische haben mein Mädchen entführt“. Dies ist nicht die ganze Wahrheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind