piwik no script img

Die WahrheitDanke, große Gleichgültigkeit!

Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (10): Wenn alles ganz und gar egal ist, absolut scheißegal.

Irgendeine Fahne hochhalten? Am Wasser? Aber wozu bloß? Foto: AP

Eines Tages stand ich am See und keine große Menschenmenge drängte sich um mich. Niemand wollte Gottes Botschaft hören. Dabei war sie so schön, schön wie das plätschernde Wasser vor meinen von Gott geküssten Füßen, sanft wie ein Teppich aus Seetang. Nun war Gottes Botschaft weniger ein Leitsatz als vielmehr eine Überschrift, und wer genau mitgelesen hat, der kennt sie schon. Sie lautet: Das Wunder der Gleichgültigkeit.

Das Wunder der Gleichgültigkeit erfasste mich just an diesem viel zu heißen Sommertag am See, der so war wie alle anderen Sommertage in diesem Sommer. Die Luft war schwul und ständ, das Wasser taugte zum Umfüllen in eine Badewanne, die Pommes waren labbrig und versalzen, aber das Wunder der Gleichgültigkeit ließ mich das aushalten, ja, vielmehr noch: Es gab so viele Dinge, die mir plötzlich ganz und gar egal wurden. Scheißegal!

Welche Dinge?, mögt ihr fragen, o ihr Ungläubigen. Ich kann es euch sagen, nein, schriftlich mitteilen, aber ach, es waren und sind so viele Dinge. Die Bible-App für Kinder. Der Name der Löwin, die neulich Kleinberlin und Großkatzenmachnow unsicher gemacht, ein Wildschwein und eine RTL-Vorort-Reporterin gerissen hatte, weswegen die einen sie, also die Löwin, Janine nannten, die anderen Leo­nie und die dritten schließlich eine Fata Morgana – KI, ick hör dir trapsen.

Die Siesta im Berliner Freibad, die kopfüber ins Wasser fiel, die leicht bekleideten Studentinnen aus dem französischen Nanterre, die mich plötzlich alle auf Insta verfolgten, statt sich mit den einheimischen Brüdern auf der Straße zu solidarisieren. Proaktive Frauen, die sich beim Anblick einer Fotokamera wie Winkekatzen in Schaufenstern bewegten, die Schultern abwechselnd vor und zurück. Die vier Schalensitze vom benachbarten „Wunder von Córdoba“, das wir nur als „Schmach von …“ kannten und die vom argentinischen Bürgermeister der Stadt Córdoba vor zwei Jahren der Stadt Wien feierlich überreicht worden waren. Wo sind sie hin? Und wer sitzt da jetzt drauf?

Von der Katze benutzte Streumunition

Die Verkaufszahlen für Schlauchboote in Anrainerstaaten. Die von meiner Katze benutzte Streumunition, die jetzt schon den gesamten Haushalt ruiniert. Und, und, und!

Aber, Moment mal! „Wunder der“, „Schmach von“ … Ich überlegte, ob es anderswo, vielleicht schon ein gefühltes Land weiter, auch eine „Schmach der Gleichgültigkeit“ geben könnte, aber schließlich war mir auch das egal. Das Wunder der Gleichgültigkeit – da war es wieder!

Doch kaum hatte ich mich seelisch entfaltet, ja entblättert in diesem endlosen Nirwana der Empfindungen, klingelte schon mein Handy, dessen Klingelton (die Erkennungsmelodie von Paulchen Panther, deutsche Version) mich anderer Zeiten erinnerte. Wer hat an der Uhr gedreht … Jedenfalls wünschte mich der Empörungsbeauftragte der Bundesregierung Dr. Erhard Dödelinger zu sprechen, und zwar pronto. Wie gut, dass ich eh schon dran war!

Wie es mir einfallen könnte, von keiner Meinung besessen zu sein, schwadronierte er. Das gehe nicht, das sei schlecht fürs System, sogar für die Klima­bilanz, wie genau, wüsste er zwar auch nicht, aber irgendein Dreh würde sich da schon finden, bellte er durch die Satellitenübertragung. Er würde mir jedenfalls dringend empfehlen, mir den neuesten Scheiß aufs Handy zu ballern. „Aus Vögeln wird jetzt X!“, lachte er lauthals durch die „Leitung“ – sorry, aber ich fand das alte Wort halt wegen der Lautreihe passend. Leitung. Kch, kch.

„Aber … Das streicht doch alles durch und ist auch komplett unnötig“, versuchte ich einzuwenden. „Nein, nein“, beeilte er sich, „Sie müssen am Ball bleiben! Oder überhaupt erst mal sehen, wo der hinläuft. Wie der sich dreht. Sie haben den Schuss einfach nicht gehört!“ – „Und?“ – „Sie müssen sich einfach entscheiden! Hopp oder topp! Hü oder hott! Links oder rechts! Dialektik ist over! Analyse auch! Sie müssen meinen! Los geht’s!“

Entkräftet wie Vorwürfe legte ich auf.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!